MultiPerspektivisch https://www.multiperspektivisch.de/ Beschreibung de MultiPerspektivisch https://www.multiperspektivisch.de/typo3conf/ext/tt_news/ext_icon.gif https://www.multiperspektivisch.de/ 18 16 Beschreibung TYPO3 - get.content.right http://blogs.law.harvard.edu/tech/rss Tue, 04 Feb 2020 16:21:01 +0100 Globalpolitische, soziale und psychologische Ursachen der Islamfeindlichkeit https://www.multiperspektivisch.de/nachricht/detail/73.html Islamdebatten sind kein neues Phänomen. Macht man sich auf die Suche nach den Ursprüngen heutiger... Islamdebatten sind kein neues Phänomen. Macht man sich auf die Suche nach den Ursprüngen heutiger Islambilder, greift es zu kurz, lediglich zwei oder drei Jahrzehnte zurückzublicken. In der wissenschaftlichen Debatte gibt es drei Herangehensweisen in der Erklärung dessen, was gemeinhin als Islamfeindlichkeit, Islamophobie und/oder anti-muslimischer Rassismus genannt wird.

Die erste Herangehensweise ist jene, die Problematik durch die Brille der Vorurteilsforschung zu beleuchten. Diese Betrachtungsweise konzentriert sich primär auf individuelle Einstellungen von Menschen und versucht, Vorstellungen über die als „anders“ markierten Musliminnen und Muslime zu deuten. Mit der Hilfe von psychosozialen Analysen sollen Ängste und Wahrnehmungen aufseiten jener Menschen nachvollzogen werden, deren Einstellungen als islamophob gewertet werden. In der öffentlichen Debatte schwingt dabei manchmal eine Vorstellung mit, wonach Vorurteile und die damit einhergehende Abwertung von als „anders“ markierten Gruppen eine gewisse Normalität in allen Gesellschaften darstellen würde. Damit geht auch eine gewisse Banalisierung von Vorurteilen einher, ganz nach dem Motto, dass es sich hierbei um nichts Außergewöhnliches handle. 

Das ruft oft auch Kritik von einer zweiten – in der Wissenschaft mittlerweile – dominierenden Perspektive auf den Plan; die Rassismusforschung. Aus der Sicht vieler AkademikerInnen in der Rassismusforschung gilt es, die Frage der Macht stärker in den Mittelpunkt zu stellen. Ohne die Bedeutung von rassistischen Vorurteilen aufseiten von Einzelpersonen zu leugnen, soll das strukturelle Verhältnis von anti-muslimischem Rassismus stärker beleuchtet werden. Der Begriff der Rasse wird hier nicht als eine real existierende Kategorie verstanden. Somit ist der Rassenbegriff nicht eine Voraussetzung von Rassismus, sondern ein Ergebnis von Rassismus. Die Essentialisierung des Muslimisch-Seins wird damit als funktional für die Herstellung eines Machtverhältnisses verstanden. Anti-muslimischer Rassismus dient somit der Aufrechterhaltung von Privilegien für eine dominante Gruppe, die eine fiktive oder reale Gruppe von MuslimInnen problematisiert, um ihre eigenen Privilegien zu verteidigen. Das lässt aber noch die Frage offen, wann und wo dieser Rassismus seine Anfänge genommen hat.

Globale Machtkonstellationen prägen Islamfeindlichkeit

Darauf versucht insbesondere die dritte Erklärung eine Antwort zu geben. AutorInnen, die sich der Schule des dekolonialen Ansatzes zugehörig betrachten, begreifen antimuslimischen Rassismus durch eine bestimmte historische und globale Perspektive. Sie gehen davon aus, dass die heutige Form von Rassismus insbesondere mit der Entdeckung Amerikas durch den Weißen Mann seinen Ausgang gefunden hat. Mit 1492 wurde nicht nur der Grundstein für die Selbstimagination Europas als christlicher weißer Kontinent gelegt, indem das Jüdische wie auch das Muslimische aus Andalusien verbannt wurde. Gleichzeitig wurde mit dem Landraub Amerikas, der Versklavung afrikanischer Schwarzer und dem Kolonialismus der Grundstein für eine weltwirtschaftliche Vorherrschaft des Weißen Mannes gelegt. Die rassistische Differenzkonstuktion des Anderen – Jüdischen, Muslimischen, Schwarzen wie auch des Weiblichen – ist mit dieser Vormachtstellung des Weißen Mannes direkt verbunden. In den Worten von Achille Mbembe ist damit Islamfeindlichkeit letztendlich eine expansive Ausweitung der kolonialen Ordnung. Zwar gibt es lange davor schon antimuslimische Stereotypen, die in einem sich christlich verstandenen Europa verwendet wurden, um etwa für die Kreuzzüge zu mobilisieren. Jedoch ging damit noch nicht der Beginn einer weltumspannenden Vormachtstellung des Weißen Mannes einher.

Alle drei Perspektiven erlauben eine bestimmte analytische Perspektive auf die Problematik des antimuslimischen Rassismus. Nun mag die konkrete Färbung oder Ausformung des antimuslimischen Rassismus in verschiedenen Ländern unterschiedlich sein. Insbesondere der zweite und dritte Zugang lenken dabei aber die Aufmerksamkeit auf (globale) Machtkonstellationen, die die Formationen der Islamfeindlichkeit prägen. Davon sind auch Länder mit muslimischen Bevölkerungsmehrheiten nicht ausgeschlossen. Zuletzt haben Enes Bayraklı und ich das erste Werk seiner Art veröffentlicht, in dem wir uns mit Islamophobie in Ländern auseinandersetzen, die mehrheitlich oft als Teil der islamischen Welt betrachtet werden. Postkoloniale Strukturen und epistemischer Rassismus, der die Norm von Denken und Handeln um die Erfahrungen des Weißen Mannes positioniert, sind dabei wesentliche Faktoren, die die Islamfeindlichkeit in mehrheitlich von MuslimInnen bewohnten Ländern angetrieben haben.

Islamberichterstattung bereits vor dem 11. September negative

Während in der breiten Öffentlichkeit oftmals der Eindruck besteht, dass Islamfeindlichkeit auf islamistisch markierten Terrorismus zurückgehe, bestätigen unzählige Studien über die Islamberichterstattung, dass diese Annahme falsch ist. Zwar hat die Berichterstattung über den Islam und die MuslimInnen nach 1979 mit der Revolution im Iran zugenommen, was mit 9/11 weiter an Fahrt gewonnen hat.

Studien zeigen, dass die Islamberichterstattung bereits lange vor dem 11. September 2001 tendenziell negativ war. Insbesondere mit dem Ende des Ost-West-Konflikts wurde ein neues Paradigma eingeführt, um die Welt und die politischen Konflikte auf ihr neu zu deuten. Nicht mehr die weltanschauliche Grenze von Kommunismus vs. Freie Welt, Ost vs. West, sondern jene um Kultur und Religion wurde bedient, um Konflikte auf dem Globus zu deuten. Samuel P. Huntington, der auch während des Ost-West-Konfliktes eine wichtige Rolle als Theoretiker spielte, sollte mit seiner Theorie „Kampfes der Kulturen“ (Clash of Civilizations) die passende Antwort auf die Zeit nach dem Kalten Krieg anbieten. Er steht dabei neben einer Reihe anderer bedeutender Autoren wie etwa Bernard Lewis. Diese Debatten prägen seither die Debatten über den Islam und die MuslimInnen in unserer Welt.

Vorstellung, der Islam widerspreche den herrschenden Ordnungen

Die zentrale Frage, die aufgeworfen wird, ist, ob es einen Platz für die MuslimInnen in unserer Welt gibt. Die Volksrepublik China hat für den westlichen Teil in Xingjang eine eindeutige Antwort darauf gefunden. Es gibt keinen Platz in dem kommunistischen Reich für eine islamische Identität. In muslimischen Ländern ist es oftmals wie in den Ländern des Globalen Nordens eine disziplinierte islamische Identität, die sich der Grammatik der herrschenden Ordnung unterstellt und diese nicht in Frage stellt, welche geduldet wird. Wobei auch hier anzumerken ist, dass die Idee, dass „der Islam“ nicht in die herrschende Ordnung passt, eine zutiefst in westlichen Ländern anzufindende Theorie ist. Der Islam, so scheint es, widerspreche den herrschenden Ordnungen, sei dies nun die liberale und/oder säkulare Ordnung im Westen, oder die kommunistische Ordnung im Osten. Was beide gemein haben ist, dass zur Herstellung dieser Vorstellungen jeweils Diskurse entstehen, die „den Islam“ mit all diesen weltanschaulichen Ordnungsvorstellungen als unvereinbar postulieren. Die Semantik des Diskurses ist dabei zweitrangig. Primär von Bedeutung ist, dass der Islam scheinbar keinen Platz in der Welt hat.

Diese Gemeinsamkeit eint derzeit auf internationaler Ebene unterschiedlichste politische Regime. Sie ermöglicht vor dem Hintergrund des Schweigens der Nobelpreisträgerin und Staatsrätin in Burma, Aung San Suu Kyi, gegenüber dem Genozid an MuslimInnen ein Treffen mit dem Premierminister Ungarns, Viktor Orban, der in einem - wenn auch viel kritisierten - Mitgliedsstaat der Europäischen Union zum dritten Mal in Reihe regiert. Und das ist nur eines von vielen Beispielen das zeigt, welche ideologische Kraft Islamophobie neben seiner Funktion der Aufrechterhaltung und Erweiterung von Machtpositionen innewohnt.

Mit freundlicher Genehmigung von IslamiQ.

Farid HafezDr. phil. Farid Hafez ist habilitierter Politikwissenschafter an der Universität Salzuburg als auch Senior Researcher bei "The Bridge Initiative" an der Georgetown University in Washington D.C.. Hafez ist zudem Autor von mehr als 100 Publikationen sowie Herausgeber des seit 2010 erscheinenden Jahrbuchs für Islamophobieforschung.


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farid.hafez@sbg.ac.at Tue, 04 Feb 2020 16:21:01 +0100
Gemeinsame Sicherheit am Persischen Golf: Der Friedensplan des iranischen Präsidenten Hassan Rohani https://www.multiperspektivisch.de/nachricht/detail/71.html Die Nachricht schockierte die Weltöffentlichkeit: Mitte September 2019 zerstörten ein paar... Die Nachricht schockierte die Weltöffentlichkeit: Mitte September 2019 zerstörten ein paar ferngelenkte Drohnen mit einem Schlag die größte Ölraffinerie Saudi-Arabiens in Abqaiq im östlichen Teil des Landes. Kein anderes Ereignis hätte der Welt so drastisch wie eindringlich vor Augen führen können, welche Konsequenzen ein US-Krieg gegen Iran auf die Weltwirtschaft und den Weltfrieden haben würde. Dieser Drohnenangriff hat gezeigt, dass Iran im Falle eines US-Krieges mit asymmetrischen Gegenangriffen reagieren könnte, und dass dann eine empfindliche Beeinträchtigung der globalen Energieversorgung und der Weltwirtschaft kein abstraktes Szenario mehr bliebe. So gesehen ist es beinahe auch irrelevant, ob der Jemen oder der Iran selbst hinter der Militäraktion gestanden hat. So oder so hat sich der Drohnenangriff als eine äußerst wirksame Aktion gegen den drohenden Irankrieg herausgestellt. Kein Wunder, dass wir genau seit diesem Datum so gut wie keine weitere Kriegsdrohungen seitens der potenziellen Kriegskoalitionäre USA, Israel und Saudi-Arabien gegen Iran mehr hören. Kein Wunder auch, dass in den westlichen Medien die Kriegspropaganda schlagartig zum Stillstand gekommen ist. Trotzdem wäre eine Entwarnung fehl am Platz. Zum einen führen die USA ihren Wirtschaftskrieg gegen die iranische Bevölkerung weiter. Und zum anderen muss damit gerechnet werden, dass die Kriegstreiber an ihrem Projekt des Amerikanischen Jahrhunderts und der Schaffung eines Greater Middle East einschließlich eines Regime Change im Iran festhalten werden.

Offen ist allerdings weiterhin die Frage, wie die Sicherheit der Öltransporte im Persischen Golf gewährleistet werden kann, nachdem im Sommer 2019 im Zusammenhang mit Kriegsdrohungen der USA gegen Iran mehrere Öltanker zur Zielscheibe von Raketenangriffen geworden waren. Die USA nahmen die aller Wahrscheinlichkeit nach selbst geschürte Eskalation zum Anlass, weitere Kriegsschiffe in den Mittleren Osten zu schicken. Aus Großbritannien, Frankreich und Deutschland wurde die Idee einer EU-Militärmission im Persischen Golf ins Spiel gebracht. Gegenüber allen diesen Vorstellungen zur Sicherheit der freien Schifffahrt im Persischen Golf, die sämtlich in der Tradition kolonialistisch-interventionistischer Strategien stehen, hat der iranische Staatspräsident Hassan Rohani bei der letzten UN-Generalversammlung Ende September 2019 mit der "Allianz der Hoffnung" ein regionales Sicherheitskonzept für den Persischen Golf vorgeschlagen. Dessen Kern besteht darin, dass sämtliche Anrainerstaaten des Persischen Golfes, also Kuweit, Katar, Bahrain, Arabische Emirate, Abu Dhabi, Saudi-Arabien, Oman, Iran und Irak, selbst die Sicherheit im Persischen Golf garantieren sollen. Während Russland und China auf Rohanis Vorschlag positiv reagierten, überzogen ihn sämtliche westliche Regierungen mit dem Mantel des Schweigens. Die vorgeblich unabhängigen Medien der westlichen Staatengemeinschaft haben den Vorschlag überwiegend ignoriert.

Hinter Rohanis Konzept verbirgt sich im Grunde die Idee der regionalen Kooperation und der gemeinsamen Sicherheit, die als Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) für den gesamteuropäischen Raum schon längst bekannt ist. Der IPPNW-Arbeitskreis Nord-Süd entwickelte in Anlehnung an die KSZE die Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit im Mittleren und Nahen Osten (KSZMNO). Seit Jahren plädieren iranische Spitzendiplomaten wie der ehemalige iranische Botschafter in Deutschland Hossein Mussavian und neuerdings auch der gegenwärtige Außenminister Javad Sarif selbst für eine regionale Kooperation und gemeinsame Sicherheit im Mittleren Osten, um die Sicherheitsprobleme der Region in die Hände der betroffenen Staaten zu legen.

Rohani erklärte bei der UN-Vollversammlung Ende September 2019 die Bereitschaft Irans, alle Differenzen mit den Golfstaaten auszuräumen, um das Projekt zusammen mit diesen Staaten zu verwirklichen. Das Konzept der Sicherheit der Transportroute für ein Drittel der globalen Ölversorgung durch die Anrainerstaaten des Persischen Golfes verdient meines Erachtens die größtmögliche Unterstützung durch die internationale Friedensbewegung und die Weltgemeinschaft. Es hat weit über die Frage der Sicherheit der globalen Ölversorgung hinaus auch das Potential, langfristig den Mittleren Osten und die Welt insgesamt friedlicher und sicherer zu machen.

- Erstens beginnen die Anrainerstaaten am Persischen Golf mit dem Projekt zum ersten Mal in der Geschichte, die eigenen Sicherheitsbedürfnissen selbst zu definieren und damit all jenen interventionistischen Intentionen äußerer Mächte einen Riegel vorzuschieben. Seit über 65 Jahren verursachen diese, unter dem Vorwand der Sicherheit der Welt-Energieversorgung, im Mittleren Osten durch eine Politik der Regime Changes, der Spaltung, des Wettrüstens und der Kriege die größten Unsicherheiten in der Region.

- Zweitens werden die Anrainerstaaten am Persischen Golf erstmalig mit der Aufgabe konfrontiert, die bisher zwischen ihnen – überwiegend durch äußere Interventionen – entstandenen Gräben zuzuschütten, die zwischen ihnen künstlich herbeigeführten Feindschaften und Feindbilder abzubauen und damit gleichzeitig auch fundamentale Voraussetzungen für eine innergesellschaftliche Demokratisierung in den mittelöstlichen Staaten herzustellen.

- Drittens und nicht zuletzt könnte das Konzept der gemeinsamen Sicherheit am Persischen Golf, wenn die Golfanrainerstaaten dies erfolgreich verwirklicht hätten, als Folie einer Perspektive für die gesamte Region des Mittleren und darüber hinaus irgendwann auch des Nahen Osten dienen und nutzbar gemacht werden.

Eine solche Perspektive, die langfristig die einzig mögliche für den Mittleren und Nahen Osten ist, erklärt vielleicht auch das absolute Desinteresse und sogar die totale Ignoranz westlicher Eliten und Medien, die Rohanis Vorschlag gegenwärtig entgegengebracht wird. Offensichtlich befindet sich die westliche Staatengemeinschaft immer noch ziemlich tief im eigenen kolonialistisch geprägten Sumpf und ist daher unfähig, die Idee der Selbstbestimmung der Völker ernstzunehmen. Gerade deshalb ist die internationale Friedensbewegung aufgefordert, den Ball aus dem Iran aufzunehmen und die Weltöffentlichkeit für einen neuen Weg der selbstbestimmten Sicherheit im Mittleren und Nahen Osten zu gewinnen.

Auch für Iran als eine de facto regionale Großmacht bringt eine aus dem Inneren der Region entwickelte Sicherheits-, Kooperations- und Friedensperspektive, die erfolgreich sein will, eine Reihe von vertrauensbildenden Maßnahmen mit sich: Die kleineren Golfstaaten wie Katar, Emirate, Kuwait, Abu Dhabi und Oman haben zu Recht die Befürchtung, für Hegemonialinteressen der starken Golfstaaten instrumentalisiert zu werden. Deshalb müssten sich die größeren Golfstaaten Iran, Saudi-Arabien und auch Irak unmissverständlich für das Prinzip „Ein Land – eine Stimme“ in allen aufzubauenden Institutionen und Organen stark machen. Zu den Good-Will-Maßnahmen der größeren Golfstaaten, allen voran Iran als Initiator des Projektes, gehört auch, allen betroffenen Staaten bilaterale Nichtangriffspakts-Abkommen und Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten der Vertragsstaaten anzubieten.

Iran wäre nicht zuletzt gut beraten, den Golfstaaten eine gemeinsame Strategie für den langfristigen Ausstieg aus dem fossilen Pfad zu unterbreiten, um an den unumgänglich gewordenen internationalen Klimaschutzprogrammen konstruktiv mitzuwirken und sich auch für die Umstellung der eigenen Volkswirtschaften auf die postfossile Ära mit größtmöglicher Planungssicherheit vorzubereiten. Ein solches Anliegen dürfte in der Weltöffentlichkeit nicht nur auf große Sympathie stoßen, sondern sie auch noch für die Grundidee der gemeinsamen Sicherheit am Persischen Golf mobilisieren.

Mit freundlicher Genehmigung von IPPNW Deutschland – Internationale Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges, Ärzte in sozialer Verantwortung e. V..

Mohssen MassarratProf. Dr. Mohssen Massarrat ist emeritierter Professor für Politik und Wirtschaft und Mitglied des wissenschaftlichen Beirats der IPPNW.


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mohmass@uos.de Thu, 12 Dec 2019 18:31:04 +0100
Wie Erwartungen Beziehungen zerstören https://www.multiperspektivisch.de/nachricht/detail/70.html Es gibt viele Gründe, warum Frauen in ihren Beziehungen unglücklich sind. Entweder sind beide... Es gibt viele Gründe, warum Frauen in ihren Beziehungen unglücklich sind. Entweder sind beide Parteien einfach nicht kompatibel miteinander oder unterschiedliche Ansprüche sind das Problem. Aber bei vielen scheint es, als hätten sie einen guten Partner gefunden. Und dennoch haben sie das Gefühl, keine erfüllte Beziehung zu führen. Woran kann es also liegen, dass Frau trotzdem unglücklich ist?

Ein Hauptgrund für Unzufriedenheit in der Beziehung sind überzogene Erwartungen. Frauen, wie auch Männer, wollen oft, dass der Partner alles für einen selbst ist. Er soll Mutter, Vater, Beschützer und Seelsorger sein. Er soll so gut zuhören können, wie die beste Freundin, so loyal sein, wie die eigene Schwester und einen beschützen können. Man möchte von ihm lernen und ihm gleichzeitig auch Dinge beibringen. Also Lehrer und Schüler in einem haben. Diese Liste kann endlos weitergeführt werden. Denn die Wünsche an potentielle Lebenspartner scheinen schier unendlich zu sein. Dabei ist es faktisch gar nicht möglich, dass eine Person all diese Eigenschaften erfüllt.

Ein Blick in den eigenen Bekanntenkreis genügt, um zu dieser Erkenntnis zu gelangen. Keine Frau hat nur eine einzige Freundin, die sie bei jedem Problem kontaktiert. Im Gegenteil. Freunde sind ein Sammelsurium an Kompetenzen und Eigenschaften, die wir nach Bedürfnissen kontaktieren. Vielleicht kann man mit der besten Freundin über alles reden. Aber die Arbeitskollegin hat einfach die besseren Tipps für Beziehungskrisen. Andere wiederum sind handwerklich begabt und helfen, wenn in der Wohnung etwas ansteht. Fakt ist, dass kein Mensch nur eine einzige Bezugsperson hat. Man hat Freundinnen, um mit ihnen über Probleme zu sprechen und andere, um mit ihnen über die Welt zu philosophieren. Warum aber erwartet man, dass ein Partner all die Eigenschaften verschiedener Freunde als Ganzes verkörpert?

Mit dieser Einstellung ruiniert jeder langfristig seine Beziehung. Viele Frauen beschweren sich beispielsweise, dass sie nicht genug Trost von ihrem Mann bekommen. Oder dass er sie nicht so gut versteht. Und obwohl sonst wahrscheinlich alles passt, haben sie das Gefühl, in einer unbefriedigenden Beziehung zu sein. Sie fangen an, ihre Partnerwahl zu hinterfragen. Dabei ist diese Erwartung doch völlig überzogen. Niemand würde eine Freundschaft hinterfragen, weil die Freundin keine Alleskönnerin ist. Und wenn doch, dann hat man entweder keine richtigen Freunde oder ist immer relativ unglücklich mit ihnen.

Wenn es um das Thema Partnerschaft geht, muss man sich von vornherein Gedanken machen und sich fragen: „Welche Qualitäten sind mir an meinem Partner wichtig? Und welche Eigenschaften wären für mich höchst problematisch?“ Wer sich diese Fragen stellt und weiß, was er will, wird es in Beziehungen leichter haben. Wichtig ist, dass wir unserem Partner auch Fehlbarkeit und menschliche Schwächen einräumen. Es ist ungerecht, zu erwarten, dass der Partner auf die eigenen Bedürfnisse maßgeschneidert ist. Vielmehr muss man versuchen, Dinge, die man eben nicht vom Partner bekommen kann, zu kompensieren. Bleibt man also beim Beispiel des Mannes, der nicht gut zuhören kann, wäre es durchaus eine Möglichkeit, die gesamte Beziehung zu hinterfragen. In diesem Moment stellt man jedoch all seine positiven Eigenschaften und Qualitäten in den Schatten und fokussiert sich nur noch auf einen einzigen Mangel. Viel gesünder wäre es aber, zu akzeptieren, dass der Partner eben nicht der beste Zuhörer ist. Und sich Alternativen zu suchen. Wie beispielsweise die beste Freundin.

Das ist wichtig. Denn die menschlichen Schwächen des Partners zu akzeptieren, bedeutet nicht, dass man auf ein eigenes Bedürfnis verzichten muss. Sondern dass man eben lernt, Fehler zu kompensieren. Es heißt auch nicht, dass man mit seinem Partner nicht mehr über Sorgen und Probleme sprechen soll, sondern dass man es mit einer anderen Erwartung tun muss.


Mit freundlicher Genehmigung von Weltenschubserin.


Aie Al-KhayatAie Al Khaiat-Gornig ist Bloggerin, Pazifistin, Feministin, Weltenbummlerin, angehende Philosophin und Vorsitzende von Engagierte Muslime Deutschland e.V..


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aie-alkhaiat@hotmail.de Wed, 20 Nov 2019 12:48:56 +0100
Macron: Das Ende der westlichen Hegemonie über die Welt https://www.multiperspektivisch.de/nachricht/detail/69.html Der französische Staatspräsident Emmanuel Jean-Michel Frédéric Macron hielt kürzlich eine... Der französische Staatspräsident Emmanuel Jean-Michel Frédéric Macron hielt kürzlich eine fulminante Rede über die außenpolitischen Ziele Frankreichs, die bedauerlicherweise in der deutschen Öffentlichkeit kaum Beachtung fand.

Dieses mag einiges über den Zustand der deutsch-französischen Beziehungen aussagen oder aber auch am Niveau der geopolitischen Debatte im politischen Berlin begründet liegen, über deren Dürftigkeit man sich keine Illusionen machen sollte.

Diese Rede, welche eher einer umfassenden Analyse glich, war von einem ergreifenden Realitätssinn geprägt, wie er heute bei den Staatsoberhäuptern des Westens eher eine Ausnahme ist.

Bei aller Oberflächlichkeit, die ihnen nachgesagt wird, sind die Franzosen - sobald es um die historische Perspektive geht - die profunderen Denker. Sie schließen dabei auch das kategorische Scheitern nicht aus, obgleich ihnen die Lust am Untergang fremd ist. In seinem literarischen Werk hat sich der französische Lyriker Paul Valery glücklicherweise nicht nur als Möchtegern-Politiker geäußert. Von ihm stammt die Definition Europas als einem "Kap Asiens". Er war es auch, der die düstere Feststellung traf, die allen Europäern - insbesondere den Deutschen und den Franzosen - unter die Haut ging und sie zur Bündelung ihrer Energie veranlassen sollte: "Im Abgrund der Geschichte ist Platz für alle."  

Diese Tradition, die eigene Außenpolitik auf geopolitische Perspektiven und Erkenntnisse zu richten, geriet in der jüngeren Vergangenheit in Vergessenheit, besonders unter der unrühmlichen Amtszeit von François Gérard Georges Nicolas Hollande. Seit dem Amtsantritt Macrons, besonders seit Beginn dieses Jahres, scheint der Staatspräsident Frankreichs in der Außenpolitik Erfolge zu suchen, die ihm innenpolitisch bisher nicht gelungen sind.

Paris sucht neue Bündnispartner und versucht die bundesdeutsche Hegemonie in Mittel- und Osteuropa, die von Berlin in keiner Weise für alle Akteure gewinnbringend genutzt wird, zu überwinden. Macron hat ausdrücklich angekündigt, sowohl zur Lösung der Krisen um den Iran als auch der Ukraine mit Russland verhandeln zu wollen. Der US-Präsident Donald John Trump warf Macron daraufhin vor, sich in die US-amerikanische Iran-Politik einmischen zu wollen, worauf der französische Außenminister barsch entgegnete, dass Paris keine Erlaubnis von Washington benötige, um mit Iran eigene Beziehungen zu pflegen.

Der französische Präsident orientiert sich hier anscheinend an der gaullistischen Strategie. von Charles André Joseph Marie de Gaulle, der wohl größte Staatsmann Frankreichs - vielleicht auch Europas - im 20.Jahrhundert, der für ein starkes Europa - vom Atlantik bis zum Ural - unter Einschluss Moskaus plädierte.

Schon früh erkannte der General im Amt des Staatsmannes, dass diese Vision im schroffen Gegensatz zu der Strategie der USA stand. Als de Gaulle im März 1966 sich den Strukturen der Nordatlantikpakt-Organisation (NATO) entzog, liefen die Vorbereitungen für diesen Coup unter strengster Geheimhaltung.

De Gaulle hatte nur seinen Außen- und den Verteidigungsminister eingeweiht. Erst unmittelbar davor hatten die übrigen Minister erfahren, dass Paris seine militärische Mitarbeit in der NATO beenden wollte.

In einem Brief an den damaligen US-Präsidenten Lyndon Baines Johnson, erklärte der französische Staatsmann, dass Frankreich beabsichtige, „seine volle nationale Souveränität auf seinem Territorium" wiederherzustellen und sich auch nicht mehr an der „integrierten Kommandostruktur des Bündnisses" zu beteiligen.

Paris zog daraufhin am 1. Juli 1966 seine Truppen unter NATO-Befehl zurück. Formell blieb das Land Mitglied des Bündnisses, aber das NATO-Hauptquartier war immerhin gezwungen, von Paris nach Brüssel umzuziehen und seine Truppenverbände größtenteils in die Bundesrepublik zu verlagern.

De Gaulle störte sich zunehmend an der angloamerikanischen Dominanz im Bündnis, das heißt der Herrschaft der USA, die bis heute anhält. Ob Macron über das gleiche Format verfügt, über die gleiche Standhaftigkeit, ja das gleiche historische Sendungsbewusstsein, mag stark bezweifelt werden. Dafür ist der amtierende Präsident doch zu sehr ein Günstling der Banken und multinationalen Konzerne, um die sich de Gaulle nie scherte, ja von denen er ebenso wenig hielt, wie vom US-Wirtschaftsmodell, welches heute unter dem Begriff der „Globalisierung" weltweit vorherrschend ist.

Aber immerhin geht die Initiative Macrons in die richtige Richtung und könnte der Europäischen Union (EU) neue Perspektiven eröffnen, wenn Berlin bereit ist, den zugespielten Ball aufzugreifen. Wenn - ja, wenn das Wörtchen „wenn" nicht wäre.

In der hier eingangs erwähnten Rede Macrons zur Außenpolitik und zur internationalen Ordnung weist der Präsident darauf hin, dass wir vermutlich vor dem Ende der westlichen Hegemonie stehen.

Ferner verweist das französische Staatsoberhaupt darauf, dass der Westen seit dem 18. Jahrhundert ein globales System - basierend auf seiner eigenen Hegemonie - etabliert habe.

Zu Beginn sei das revolutionäre Frankreich der Führer des Westens gewesen, aber schon im 19. Jahrhundert, so Macron, aufgrund der industriellen Revolution, später in den beiden Weltkriegen im 20. Jahrhundert, sei diese Führungsmacht erst an Großbritannien, dann an die USA übergegangen.

Macron erläutert, dass wir uns aktuell in einer neuen geopolitischen Ausgangslage befinden würden. Der Westen habe Fehler begangen; falsche Entscheidungen seien besonders durch die USA getroffen worden.

Er macht deutlich, dass sich die geopolitischen Realitäten gegen den Westen entwickelten und dass wir Zeugen einer Entwicklung seien, in der neue Mächte aufsteigen, deren Auswirkung von uns - dem Westen - lange Zeit in einer Mischung aus Narzissmus und  Fehleinschätzungen unterschätzt worden seien.

Der Präsident resümiert, dass wir, um diese Mächte anzuerkennen, zuerst nach China, dann nach Russland und Indien zu schauen haben; Länder deren Strategien in den letzten Jahren erfolgreicher gewesen seien als unsere.

Diese neuen Mächte seien nicht nur politische und ökonomische Mächte geworden und hätten damit nicht nur die internationale Ordnung durcheinander gewirbelt, sondern sie hätten auch die politische Ordnung und das politische Denken äußerst wirkungsvoll neu geformt. Die Herausforderung sei nun, Frankreich und Europa in dieser neuen, konfliktreichen multipolaren Weltordnung als eine selbstständige, balancierende Macht einzubringen - und dazu gehöre es, blockfrei, flexibel und frei zu agieren.

Inwieweit Paris diese Version einer europäischen Emanzipation von den USA umsetzen wird und kann, wird sicherlich auch vom Agieren oder Bremsen Berlins abhängen.


Ramon SchackRamon Schack (geb. 1971) ist Diplom-Politologe, Journalist und Publizist. Er schreibt für die „Neue Zürcher Zeitung“, „Zeit Online“, „Deutschland-Radio-Kultur“, „Telepolis“, „Die Welt“ und viele andere namhafte Publikationen. Ende 2015 wurde sein BuchBegegnungen mit Peter Scholl-Latour – ein persönliches Porträt von Ramon Schack" veröffentlicht, eine Erinnerung an geteilte Erlebnisse und einen persönlichen Austausch mit dem berühmten Welterklärer.


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ramon_schack@yahoo.de Wed, 11 Sep 2019 17:47:55 +0200
Wurde der Islam mit dem Schwert verbreitet? https://www.multiperspektivisch.de/nachricht/detail/68.html Die Vorstellung, dass sich der Islam nur mit dem Schwert verbreitet hat und dass Zwangsbekehrungen... Die Vorstellung, dass sich der Islam nur mit dem Schwert verbreitet hat und dass Zwangsbekehrungen im Islam erlaubt sind beziehungsweise gefordert werden, ist im Abendland weit verbreitet, und diese Auffassung scheint sich noch durch das Vorgehen der IS-Banden zu bestätigen. Papst Benedikt XVI. hatte im Jahr 2006 in einer umstrittenen Vorlesung an der Regensburger Universität aus einem mittelalterlichen Streitgespräch zwischen dem byzantinischen Kaiser Manuel II. Palaeologos und einem persischen Theologen einen Abschnitt zitiert, nach dem der Prophet des Islams, Muhammad ibn Abdullah „vorgeschrieben hat, den Glauben, den er predigte, durch das Schwert zu verbreiten.“ Im Folgenden will ich mich mit der Frage beschäftigen, ob dies zutreffend ist.

Zunächst einmal könnte man diesen Vorwurf natürlich auch an andere Religionen richten, nicht zuletzt an das Christentum. So entschuldigte sich Papst Johannes Paul II. für die Zwangschristianisierung der einheimischen Indios in Südamerika. Marcio Meira, Vertreter der Ureinwohner Brasiliens, äußerte sich im Jahr 2007 wie folgt: „Viele Menschen nahmen das Christentum an, aber es wurde gewaltsam durchgesetzt." Die Christianisierung in Afrika und Asien fand im Rahmen der Expansionsbestrebungen der Kolonialmächte statt.

Auch in Deutschland wurde das Christentum nicht ohne Zwangsmaßnahmen angenommen. Erinnert sei hier an die Zwangschristianisierung der Sachsen durch die Sachsenkriege (etwa 772-804) Karls des Großen mit Zehntausenden von Toten, was sogar den Berater Karls des Großen, Alkuin, zu der Äußerung veranlasste, dass ein Mensch zwar zur Taufe, aber nicht zum Glauben getrieben werden kann.

Wie verhält es sich nun mit dem Islam, wurde er nur mit dem Schwert verbreitet?

Im 8. Jahrhundert gelang es insbesondere den Umayyaden-Herrschern, den Machtbereich des muslimischen Reiches erheblich auszuweiten. Doch die Dynastie der Umayyaden wurde von Muawiyah, Sohn des Erzfeindes des Propheten Muhammed, ins Leben gerufen, der den vierten rechtgeleiteten Kalifen der muslimischen Sunniten und ersten Imam der muslimischen Schiiten, Ali ibn Abu Talib durch einen Staatsstreich entmachtete. Dieser Ali ibn Abi Talib, der den Propheten als sein Ziehsohn, Vetter, Schwiegersohn und bester Schüler am nächsten stand, hatte sogar ein eindeutiges Verbot der Führung eines Angriffskrieges ausgesprochen. So erklärte er vor der Schlacht von Siffin im Jahre 657 seinen Offizieren: „Beginnt niemals selbst einen Krieg. Gott liebt nicht das Blutvergießen. Kämpft nur in der Verteidigung. Greift niemals den Feind zuerst an...“

Der muslimische Herrschaftsbereich wurde allerdings schon unter den Kalifen vor Ali ibn Abi Talib ausgedehnt - an dieser Stelle sei auch auf die unterschiedlichen Auffassungen zur Nachfolge des Propheten verwiesen (nach den muslimischen Schiiten ist Ali in Ghadir Khumm vom Propheten Muhammad zum Nachfolger bestimmt worden, es wurde jedoch der Prophetengefährte Abu Bakr der erste Kalif). Der muslimische Machtbereich wurde jedenfalls durch die Dynastien der Umayyaden und der darauf folgenden Abbasiden territorial durch kriegerische Expansion erheblich ausgedehnt.

Bei diesen territorialen Ausdehnung des Herrschaftsbereichs sollte man aber Folgendes bedenken: Eine vergleichsweise kleine Zahl von Kämpfern hatte damals zwar ein großes Territorium erobert, hatte damit aber noch lange nicht die Herzen der Menschen gewonnen. In der Regel fanden keine Zwangsbekehrungen statt, die Christen und Juden beispielsweise durften ja an ihrer Religion festhalten, wobei sie in diesem Falle die Dschizja (Ausgleichszahlung) zu entrichten hatten. Ein weiterer aufschlussreicher Hinweis ist die Eroberung des iranischen Kulturraums. Statt dass es zu einer Islamisierung des zarathustrischen Persiens kam, kam es viel mehr zu einer massiven Übernahme von persischen Standards durch die muslimischen Eroberer - Persien wurde erst mehr als 300 Jahre nach seiner Eroberung mehrheitlich muslimisch und das obwohl die sunnitisch-muslimischen Herrschern die altpersische Religion nicht als privilegierte religiöse Minderheit (Leute der Schrift) einstuften. Allein dieser Umstand zeugt von der friedlichen Verbreitung des Islams.

Wie kam es aber zu hauptsächlich friedlichen Verbreitung des Islams?

Nach dem von multikonfessionellem Indien ausgezeichneten Denker, der Islamforscher Prof. Koneru Ramakrishna Rao, war es die "moralische Kraft" der islamischen Religion, die ihre Durchsetzung garantierte. Christliche Theologen verwiesen auch auf die Logik und Einfachheit des islamischen Monotheismus, den die Menschen überzeugend fanden.

Bei der Frage, ob der Islam Zwangsbekehrungen fordert oder erlaubt, ist theologisch entscheidend, dass nach dem Koran, dem heiligen Buch der Muslime und der wichtigsten Geistesquelle des Islams, Zwangsbekehrungen verboten sind. So gibt es nach Vers 256 der Sure 2 „keine Nötigung in der Religion“. Hierbei ist darauf aufmerksam zu machen, dass das arabische Wort "Ikrah" primär Nötigung, statt Zwang, wie es geläufig übersetzt wird, bedeutet. Das heißt, selbst Nötigung in der Religion wird vom Islam verworfen. Das wird auch in vielen anderen Versen deutlich. Im Vers 29 der Sure 18 heißt es beispielsweise: „Und sprich: (Es ist) die Wahrheit von eurem Herrn. Wer nun will, der soll glauben, und wer will, der soll ungläubig sein.'" Weiterhin heißt es in der Sure 109: „Sprich: O ihr Ungläubigen! Ich diene nicht, was ihr dient, und ihr dient nicht, was ich diene… Euch euer Religion und mir meine Religion.“ Ganz deutlich bezieht der Vers 99 der Sure 10 gegen jede Form der Zwangsmissionierung Stellung, indem rhetorisch gefragt wird: „Willst du etwa die Menschen dazu zwingen, gläubig zu werden?“

Nach der Lehre aller islamischen Schulen werden die Taten der Menschen nach ihren Absichten in ihren Herzen bewertet, für die sie dann am Jüngsten Tag gerichtet werden. Ein erzwungener oder aufgenötigter Glaube wäre insofern wertlos.

Markus FiedlerDr. phil. Markus Fiedler ist Autor von mehreren Büchern und zahlreichen Artikeln mit dem Schwerpunkt Islam und Muslime in der europäischen Wahrnehmung.


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dr.markusfiedler@hotmail.de Wed, 17 Jul 2019 20:28:21 +0200
Die mehrdimensionale heilige Stadt Qom in Iran https://www.multiperspektivisch.de/nachricht/detail/67.html Qom ist eine von zwei Pilgerstädten in Iran, in der Traditionalisten und Freidenker... Qom ist eine von zwei Pilgerstädten in Iran, in der Traditionalisten und Freidenker aufeinandertreffen. Sie befindet sich 120 km südlich von der Hauptstadt Teheran.

In den islamischen Überlieferungen wird diese Stadt bereits lobend erwähnt. Viele iranische Großayatollahs haben in Qum gelebt und gewirkt, und die größte schiitische Theologische Hochschule der Welt (Hawza) liegt in dieser Wüstenstadt. Auf den ersten Blick scheint Qum als ein verschlossener Ort, der als das Hauptzentrum der Islamischen Revolution Irans im Jahre 1979 im Westen bekannt wurde. Aber was diese heilige Stadt in Wirklichkeit anzubieten hat, ist vielfältig und mehrdimensional. Qum ist ein wissenschaftliches Zentrum für Geistes- und Humanwissenschaften, die Stadt beherbergt mehr als 23 Universitäten und 30 Fachbibliotheken, zahlreiche ausländische Studentinnen und Studenten, die in den wissenschaftlichen Zentren verschiedene Fremdsprachen lernen. Die Provinzhauptstadt Qum hat ursprünglich ihre Bedeutung, ihren Glanz und Ruhm dem heiligen Schrein von Fatima Masuma, einer Urenkelin des Propheten des Islams, Muhammad ibn Abdullah, zu verdanken.

Fatima Masuma

Fatima Masuma, die Tochter des siebten Imams, Musa al-Kazim, reiste im Jahre 817 von Medina in die heutige turkmenische Stadt Merw, die damals Hauptstadt des sunnitischen Kalifen al-Ma'mun war, um ihren Bruder, den achten Imam der Schiiten, Alī ibn Musa ar-Rida, zu besuchen. Unterwegs wurde sie krank und ließ sich nach Ghom bringen, wo sie nach einer kurzen Zeit verstarb und beigesetzt wurde. Das prachtvolle Gebäude, das ihren Schrein umgibt, wurde im Laufe der Zeit und mit Unterstützung der verscheidenden iranischen Dynastien ausgeschmückt und ausgebaut. Es ist bemerkenswert, wie eine Urenkelin Mohammeds, eine junge Dame, von den schiitischen Geistlichen des Islams so verehrt wird, dass man die größte Theologische Hochschule der Schia (Hawza) in dieser Stadt gegründet hat.

Gemäß einem Bericht des Internationalen Büros vom heiligen Schrein in Qom besuchten im letzten Jahr mehr als 20.000 Touristen aus 86 nichtmuslimischen Ländern und mehr als 95.000 ausländische Pilger aus 55 Ländern das heilige Mausoleum. Die Zunahme der Zahl der ausländischen Besucher ist so beachtenswert, dass das Internationale Büro im letzten Jahr mehr als 3.600 Ausflüge für nichtmuslimische Touristen in Qom veranstaltete. Ferner fanden 280 Sitzungen für Jugendliche im heiligen Schrein von Qom statt, um ihre Fragen zu beantworten.   

Einige von den zahlreichen wissenschaftlichen Zentren und Universitäten in Qom

Die Howze-ye 'Elmiyye-ye Qom hat eine lange Geschichte. Sie war erstmals im 9. und 10. Jahrhundert der Mittelpunkt des schiitischen Klerus. Diese Rolle übernahmen später Städte wie Baghdad, Nadschaf, Hilla und Isfahan. Vor etwa 100 Jahren wurde die Theologische Hochschule von Qom von Großajatollah Haeri Yazdi neugegründet.

Die Gründung der Al-Mustafa Universität geht bis in das Jahr 1979 zurück. Sie ist eine internationale Universität für Islamwissenschaften mit 3.500 Dozentinnen und Dozenten und mit mehr als 50.000 Studentinnen und Studenten aus Iran und 122 anderen Ländern. Logik, Theologie, Philosophie, Mystik, Ethik, Jurisprudenz, Geschichte sowie Erziehungswissenschaften bilden die Pflichtfächer. Neben Persisch und Arabisch werden weitere Sprachen wie Englisch, Russisch, Deutsch und Französisch angeboten. Das Studium vieler Fächer kann ebenso per Fernstudium betrieben werden.

Diese universitäre Einrichtung, die drei Jahre nach der Islamischen Revolution gegründet wurde, ist für weiblichen Studierenden vorbehalten. Seit ihrem Bestehen haben 3.000 Studentinnen aus 82 Ländern in den Fächern Theologie, Koran- und Überlieferungswissenschaften, Arabisch, Geschichte, Psychologie und Jurisprudenz studiert.

Jameat-al'Zahra ist eine traditionelle Theologische Hochschule (Howze) für Frauen und wurde 1984 gegründet. Mehr als 50.000 Studentinnen aus 68 Ländern haben in dieser Hochschule ihren Bachelor- und Master-Studiengang sowie als Doktorandinnen studiert. Zu der femininen Howze gehören ein Kindergarten, Einkaufzentrum, Fitnessstudio, Schwimmbad und eine Klinik.

Die Lehrkräfte der Baqir al-Olum Universität, die im Jahre 1984 gegründet wurde, bestehen sowohl aus weltlichen Akademikern als auch religiösen Geistlichen. Die Universität bietet Theologiestudierenden weiterführende Studien in anderen Disziplinen wie Politik- und Kulturwissenschaften, Soziologie, Philosophie und Ethik, Geschichte und Zivilisation an. Zu dieser Universität gehört ein Sprachenzentrum, an dem Englisch, Arabisch, Deutsch und Französisch unterrichtet wird.

Die Mofid Universität wurde im Jahre 1989 gegründet und zeichnet sich durch ihre strenge Aufnahmeprüfung aus. Theologiestudierende können hier Wirtschaft, säkulare Rechtswissenschaft, Politikwissenschaften und westliche Philosophie studieren. Auch Nicht-Theologiestudierende erhalten nach einer Aufnahmeprüfung ebenfalls die Möglichkeit, an dieser Universität zu studieren.

Das Fachzentrum, das auch als Imam Sadiq Institut bezeichnet wird, wurde 1991 von Groß-Ayatollah Sobhani und der Verwaltung der Howze-ye 'Elmiyye-ye Qom gegründet. Die neuesten Themen der Theologie sowie vergleichender Theologie und Islamwissenschaften werden in diesem Institut behandelt.

Das Forschungsinstitut wurde im Jahr 1982 gegründet und unterhält drei Forschungszweige für Verhaltens-, Sozial- und Islamwissenschaften. Das Institut forscht insgesamt in zwölf Bereichen, nämlich im Bereich der Psychologie, der Erziehungswissenschaften, der Familie, der philosophischen Humanwissenschaften, der Wirtschaft, der Soziologie, der Politikwissenschaften, des Managements, der Geschichte, der Rechtswissenschaften, der Philosophie und der Koranforschung. Das Ziel des Forschungsinstituts besteht darin, eine Brücke zwischen der religiösen und der weltlichen Bildung in Iran aufzubauen. Die Kooperation zwischen dem religiös motivierten Forschungsinstitut und den weltlichen Universitäten umfasst gemeinsame Veröffentlichungen, Workshops, wissenschaftliche Tagungen und Zeitschriften.

Im Jahre 1994 ist die Universität mit den Fächern Christentum, Judentum, Buddhismus, Hinduismus und Islamische Konfessionen gegründet worden. Diese Universität hat acht Fakultäten, in denen schiitische Studien, Weltreligionen, Mystik, Philosophie und Logik, Frau und Familie, Sprache und Kultur behandelt werden. Zu dieser Universität gehören zudem verschiedene Einrichtungen wie ein Sprachenzentrum. Die Universität für Religionen hat mehrere Vereinbarungen mit inländischen und ausländischen Hochschulen, darunter mit der renommiertesten sunnitischen Theologie-Universität, der Al-Azhar in Kairo, mit der Johann Wolfgang Goethe-Universität in Frankfurt am Main, mit der Freien Universität in Berlin, mit der Karl-Franzens-Universität in Graz und der Universität in Paderborn sowie mit der Sheikh Tusi Universität in Najaf. Das Studium ist in vielen Fächern ebenfalls per Fernstudium möglich. Zu der Universität gehört auch eine große Fachbibliothek.

Das Institut ist im Jahre 2011 mit der Unterstützung des iranischen Kulturministeriums, der Howze-ye 'Elmiyye-ye Qom und des Vatikans gegründet worden. In verschiedenen Teilen der Welt und in Iran hat das religiöse Friedensinstitut mehr als 80 internationale Tagungen und Workshops, die interreligiösen Dialoge und Kooperationen einleiteten, ausgetragen. Es unterhält zudem Vereinbarungen mit ausländischen Institutionen in Deutschland, im Vatikan, Libanon, in Österreich, Polen, Norwegen und Schweden.

Einige Fachbibliotheken in Qom

Mehr als 30 Fachbibliotheken befinden sich in Qom. Erwähnenswert sind:

  • die Fachbibliothek des heiligen Schreins von Fatima Masumeh mit 230.000 Exemplaren.

  • die Fachbibliothek des Großajatollah Haeri Yazdi, bestehend aus 18.000 Handschriften und 12.000 Nachschlagewerken und 19.000 Exemplaren.

  • die Fachbibliothek des Forschungsinstituts der Theologischen Hochschule (Howze) und der Universität mit 50.000 Buchtiteln in Persisch und Arabisch und 6.900 Büchern in europäischen Sprachen.

  • die von Groß-Ayatollah Sistani gegründete Fachbibliotheken für persische Literatur, Geschichte Irans und des Islam, Koranwissenschaften, Theologie, Rechtswissenschaften, Philosophie, Astronomie und Fremdsprachen mit 35.000 Buchtiteln.

  • die Fachbibliothek der Baqir al-Olum Universität mit 45.000 Buchtiteln in Persisch und 4.500 Buchtiteln in Fremdsprachen.

  • die Fachbibliothek von Jameat-al'Zahra mit 36.000 Buchtiteln in Persisch und anderen Sprachen.

  • die Fachbibliothek und das Archiv der Mofid Universität.

Darüber hinaus ist die Bibliothek des Großayatollah Marashi von großer Bedeutung. Sie wurde von ihm im Jahre 1974 gegründet. Diese Bibliothek ist die größte Bibliothek für Handschriften in Iran und die drittgrößte auf der Welt. In dieser Bibliothek befinden sich mehr als 31.000 Buchtiteln und 60.000 Exemplare, die in Handschrift erhalten geblieben sind. 65 Prozent der Bücher sind auf Arabisch und der Rest auf Persisch, Türkisch, Mittelpersisch, Latein, Urdu und Hebräisch. 

Fazit

Abschließend ist zu sagen, dass die religiöseste und konservativste Stadt Irans, Qom, zugleich auch die internationalste Stadt des Landes mit zahlreichen Ausländerinnen und Ausländern aus den unterschiedlichsten Ländern der Welt ist. Sie ist nicht nur das theologische Zentrum des schiitischen Landes, sondern auch ein Zentrum für weltliche Geisteswissenschaften. Dies rührt daher, weil in der Weltanschauung der Islamischen Republik Iran nicht von einer Dichotomie von religiöser und weltlicher Wissenschaft ausgegangen wird, sondern die Wissenschaft wird als ganzheitlich begriffen - Gott Selbst ist das absolute Wissen und damit der Ursprung allen Wissens in der Welt.


Dr. phil. Sedigheh Mousavi Dr. phil. Sedigheh Mousavi Khansari arbeitet an der Philosophischen Fakultät "Orient- und Islamwissenschaft" der Eberhard Karls Universität Tübingen und ist die Autorin des Buchs "Molla Sadras Handlungstheorie im historischen Kontext". Ihre Forschungsgebiete sind unter anderem die Schiitische Philosophie vom 13. bis ins 17. Jahrhundert, Handlungstheorie und die Geschichte der Safawiden.


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sedigheh.mousavi@aoi.uni-tuebingen.de Tue, 02 Jul 2019 21:02:20 +0200
Polit-Talkshow: Krise zwischen USA und Iran - Krieg oder Deal? https://www.multiperspektivisch.de/nachricht/detail/61.html Anlässlich der medial heraufbeschworenen Kriegsgefahr zwischen den Vereinigten Staaten von Amerika... Anlässlich der medial heraufbeschworenen Kriegsgefahr zwischen den Vereinigten Staaten von Amerika und der Islamischen Republik Iran strahlte der staatliche Auslandsrundfunk der Bundesrepublik Deutschland, die Deutsche Welle (DW), dazu eine Talkrunde aus.  

Die nach wie vor aktuelle Sendung vom 16. Mai 2019 behandelt jenseits der angeblichen Kriegsgefahr und im Angesicht des "maximalen Drucks" Washingtons der (Un-)Möglichkeit eines neuen Abkommens weitere Themen, wie die - je nach Lesart - stabilisierende bzw. destabilisierende Rolle Teherans in der Region.

Gäste der Gesprächsrunde sind Torrey Taussig von der US-Denkfabrik "The Brookings Institution", zur Zeit bei der "Robert Bosch Stiftung", und Shayan Arkian, Herausgeber vom analytischen Magazin "MultiPerspektivisch" und Chefredakteur des Fachmagazins "IranAnders", sowie Rick Noack von der US-Tageszeitung "The Washington Post".

Im Folgenden die Sendung:

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redaktion@multiperspektivisch.de Thu, 06 Jun 2019 14:29:49 +0200
Die destabilisierende Rolle Saudi-Arabiens und seiner Verbündeten in Libyen https://www.multiperspektivisch.de/nachricht/detail/60.html Die libysche Hauptstadt Tripolis, die sich nie vom Sturz Muammar Mohammed Abu Minyar Gaddafis im... Die libysche Hauptstadt Tripolis, die sich nie vom Sturz Muammar Mohammed Abu Minyar Gaddafis im Jahr 2011 erholt hatte, ist wieder Kampfgebiet.

Trumps Saudi-Connection in Libyen vor Ort

Seit Anfang April stehen die Truppen des Warlords Khalifa Belqasim Haftar aus dem ostlibyschen Bengasi vor den Toren der westlibyschen Metropole. Manifestiert sich hier auch die uralte Spaltung des Landes in die historischen Provinzen Tripolitanien und der Kyrenaika?

Auf jeden Fall gibt es einen uralten Gegensatz zwischen dem weltlichen Tripolitanien im Nordwesten mit der Hauptstadt Tripolis und der Kyrenaika im Osten - das Land südlich der Hafenstadt Bengasi mit seinen uralten Bindungen ins benachbarte Ägypten hinein, und einer historisch starken islamischen Senussi-Bruderschaft, die auch an der Macht war, bis sie 1969 von Gaddafi weggeputscht wurde.

Warlord Haftar, der eine buntgemischte Truppe aus militärischen Einheiten, islamistischen Milizen, Stammeskriegern und Söldnern aus dem Sudan befehligt, hat als Ziel die Eroberung von Tripolis angekündigt, um diese von "Terroristen" zu befreien.

Damit ist die von der internationalen Gemeinschaft installierte Regierung von Präsident Fayez Mustafa al-Sarraj gemeint. Haftar plant die Errichtung eines straffen Militärregimes, wie im Nachbarland Ägypten. Interessant ist hierbei, dass er sich seit kurzem der Gunst von US-Präsident Donald John Trump erfreuen kann.

Bei genauerem Hinsehen wird deutlich, warum Trump sogar die Strategie seines Außenministers Michael Richard Pompeo durchkreuzt, um Haftar zu unterstützen. Bisher wird der Warlord nämlich nicht nur vom ägyptischen Präsidenten und General Abdel Fattah Saeed Hussein Khalil El-Sisi unterstützt, der sich dafür den Zugriff auf die Erdölfelder in Ost-Libyen sicherte, sondern auch von den Vereinigten Arabischen Emiraten (VAE) militärisch aufgerüstet, wobei Saudi-Arabien die Rechnungen bezahlt.

Dank Trump: Salafisten vor den Toren Europas

Trump, der selbsternannte Patriot, den es nicht stört, mit Saudi-Arabien enge Beziehungen zu unterhalten, obwohl von dort ein Großteil der Attentäter vom 11. September stammte und der Anschlag wahrscheinlich dort erdacht wurde, wittert wahrscheinlich wieder ein Geschäft, denn die Waffen wurden vorher unter anderem bei US-Rüstungsschmieden bestellt.

Wen stört es denn da im Weißen Haus, wenn vor den Toren Europas ein Krisenherd am Lodern bleibt, schließlich muss Brüssel dann ja sehen, wie man mit den Flüchtlingsströmen zurechtkommt, vor denen Gaddafi einst gewarnt hatte. Haftar selbst hatte sich in Saudi-Arabien um eine Erlaubnis bemüht, den Angriff starten zu dürfen, womit die Machtverhältnisse klar sind.

Während der Westen unter der Führung Washingtons die Islamische Republik Iran ökonomisch zu strangulieren versucht, darf Riad jetzt auch in Libyen ihre puritanische Version des Wahhabiten- und Salafisten-Islams vor den Toren Europas verbreiten. Hauptsache die Saudi-Connection von Trump und Co. sichert sich ihre Rendite. Das Wall Street Journal meldete diesbezüglich in der Ausgabe vom 12. April 2019, dass die Saudis Haftar selbst mit einige Millionen US-Dollars protegieren.

Emmanuel Jean-Michel Frédéric Macron folgt seinem Vorgänger Nicolas Paul Stéphane Sarközy de Nagy-Bocsa

Aber auch andere Mächte versuchen sich dort zu bereichern. Frei nach dem Motto: "Wasch mir den Pelz, aber mach mich nicht nass!" bestehen geheime Kontakte zwischen einflussreichen EU-Staaten und Haftar, obwohl die Europäische Union offiziell die Regierung in Tripolis anerkannt hat. Ganz vorne weg natürlich Frankreich, unter der Führung vom Sonnenkönig Macron, der sogar Militärberater zu Haftar geschickt hat.

Der französische Präsident folgt daher der unseligen Tradition seines Vorgängers Sarkozy, welcher sich zuvor von Gaddafi aushalten und seinen Wahlkampf finanzieren ließ, dann aber den Einflüsterungen des Mode-Philosophen Bernard-Henry Lévi aus der Pariser Bussi-Gesellschaft folgte und seinen alten Gläubiger und Gönner Gaddafi liquidieren ließ.

Lévi, der das alles in Gang brachte - angeblich in Sorge um seine Freunde in Bengasi - wurde dort schon lange nicht mehr gesehen, dafür aber in der letzten Zeit in der Ukraine. Trump lässt sich natürlich die Butter vom Brot nicht stehlen, beziehungsweise das Öl aus der Wüste. Per Telefon machte der Präsident der USA dem libyschen Warlord Mut und würdigte dessen Rolle bei der Bekämpfung des Terrorismus und der Sicherung der libyschen Ölvorkommen.

Italien, unter dessen Kolonialherrschaft 1912 Libyen erst entstand, besitzt noch umfangreiche Latifundien dort und steht hinter der Regierung in Tripolis. Rom zeigt sich verärgert darüber, dass Paris gezögert hat, eine kürzlich verabschiedete Resolution des UN-Sicherheitsrates zu unterstützen, in der Haftar aufgefordert wurde, seine Aggressionen zu stoppen.

Wem das alles sehr verworren vorkommt, beziehungsweise das Gefühl erhält, die Außenpolitik des Westens wird nur noch von der Profitgier großer Konzerne diktiert, der hat ein Gefühl für die Tragödie des Westens und unserer Zeit erlangt.


Ramon SchackRamon Schack (geb. 1971) ist Diplom-Politologe, Journalist und Publizist. Er schreibt für die „Neue Zürcher Zeitung“, „Zeit Online“, „Deutschland-Radio-Kultur“, „Telepolis“, „Die Welt“ und viele andere namhafte Publikationen. Ende 2015 wurde sein BuchBegegnungen mit Peter Scholl-Latour – ein persönliches Porträt von Ramon Schack" veröffentlicht, eine Erinnerung an geteilte Erlebnisse und einen persönlichen Austausch mit dem berühmten Welterklärer.


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ramon_schack@yahoo.de Thu, 09 May 2019 13:14:02 +0200
Verrückt genug, die Welt zu verändern https://www.multiperspektivisch.de/nachricht/detail/59.html Als Kinder träumten wir noch davon, die Welt zu verändern. Doch mit jedem neuen Lebensjahr kühlt... Als Kinder träumten wir noch davon, die Welt zu verändern. Doch mit jedem neuen Lebensjahr kühlt die Motivation dafür ab. Haben uns früher die Erwachsenen gesagt, dass es unmöglich ist, so sind heute wir diejenigen, die uns selbst zurückhalten. Auch ich erwische mich oft dabei, wie ich mir sage: "Ach Aie, das ist doch verrückt." Heute frage ich mich, warum ich diesen Gedanken habe. Was ist denn verrückt daran, die Welt verändern zu wollen? Sollte die Frage nicht vielmehr lauten, was wir unter dem Ausdruck "die Welt verändern" verstehen? Die meisten denken dabei an Weltfrieden. Wer die Welt verändern möchte, will der Menschheit Gerechtigkeit und Frieden bringen. Doch so gut und lobenswert diese Intention auch ist, früher oder später muss man sich eingestehen, dass ein Menschenleben dafür nicht ausreicht. Aber heißt das automatisch, dass wir die Welt nicht verändern können? Das glaube ich nicht.

Ich glaube, dass wir diesen Wunsch nach Veränderung zu sehr idealisieren. Es ist offensichtlich, dass eine einzige Person keinen Weltfrieden bringen kann. Und um die Welt zu verändern, muss man nicht unbedingt moralische Ziele verfolgen. Pablo Piacasso war ein Weltveränderer. Und auch Albert Einstein veränderte unser aller Leben. Keiner von ihnen brachte uns jedoch den Weltfrieden.

Was ist also damit gemeint, wenn wir von "Weltveränderung" sprechen? Die Antwort auf diese Frage war nicht leicht. Aber vor kurzer Zeit wurde sie mir klar.

Die Welt zu verändern heißt, etwas Bewegendes zu tun. Es bedeutet, die Welt zu verbessern. Ihr etwas zu geben, das außergewöhnlich ist. Gedanken zu denken, die anders sind. Dinge zu tun, die aus der Norm fallen. Sie müssen nicht automatisch zu Weltfrieden führen. Menschen wie Mahatma Gandhi veränderten die Welt, ohne Frieden für alle Nationen zu schaffen. Aber was machte sie so besonders? Warum haben sie Völker bewegt? Jahre nach ihrem Tod berühren sie uns noch immer mit ihrer Philosophie oder ihren Handlungen. Gibt es etwas, was sie gemeinsam haben?

Blickt man auf bewegende Persönlichkeiten, so fällt eines sofort auf. Sie alle waren Querdenker. Ihre Tätigkeiten entsprachen nicht der Norm. Die Art und Weise, wie sie dachten und handelten war anders. Menschen, die die Welt verändert haben, passten nicht in ihr Umfeld rein. Doch diese Eigenschaft allein machte sie nicht zu etwas besonderem. Das Besondere an ihnen waren vielmehr sie selbst. Und ihr Umgang mit dieser Tatsache. Denn sie verfolgten ihre Ziele, egal was andere zu ihnen sagten. Und auch sie haben Rückschläge erlitten. Doch sie brachen ihren Willen nicht, sondern bestärkten sie. Gesellschaftliche, technische oder persönliche Hürden waren für sie keine Bremse, sondern die treibende Kraft. Sie schafften etwas Neues. Aus Asche entzündeten sie Feuer. Wie können wir das gleiche tun?

Ich glaube fest daran, dass wir alle Weltveränderer sind. Ich glaube daran, dass wir als solche geboren wurden. Aber Veränderung ist mühselig und wir Menschen lieben die Gewohnheit. Wir finden es einfach, uns an die Norm anzupassen, weil wir die Konsequenzen scheuen. In der Schule wollen wir keine Außenseiter sein. Und unseren Freundeskreis zu verlassen ist mit vielen Unanehmlichkeiten verbunden. Wir haben Angst, Dinge zu wagen. Unsere Träume lassen wir in unseren Köpfen. Denn dort kosten sie uns nichts. Unsere Berufe sollten sicher sein. Denn Sicherheit ist bequem. Aber Sicherheit ist auch langweilig. Tätigkeiten, die uns beflügeln, erfordern Risiken. Aber wir fürchten uns davor. Wir haben Angst davor, unsere eigene Welt zu verändern. Wie sollen wir dann die Welt anderer verändern?

Erinnert ihr euch daran, wie ihr als Kinder von einer besseren Welt geträumt habt? Wieso wollten wir damals alle Weltveränderer sein? Weil wir keine Sorgen hatten. Weil unsere einzige Hürde unsere Kindlichkeit war. Doch mit dem Alter hören wir immer wieder, dass unsere Visionen unerreichbar sind. Wenn wir von Ideen sprechen, nennt man uns verrückt. Und wir ziehen uns diesen Schuh an. Langsam aber sicher fassen wir Fuß in der Welt der "Standarddenker". Wir merken es nicht, wie wir den Gedanken annehmen "Die Welt verändern, das können andere machen". Dann sehen wir den anderen dabei zu, wie sie Dinge erschaffen, Menschen bewegen und Geschichte schreiben. Und wir fragen uns, wie machen sie das nur?

Die Antwort darauf ist ganz einfach. Und hierfür möchte ich Steve Jobs zitieren:

„Dies geht an die Verrückten, die Unangepassten, die Rebellen, die Unruhestifter, die runden Stifte in den quadratischen Löchern… diejenigen, die Dinge anders sehen – sie mögen keine Regeln…. Du kannst sie zitieren, eine andere Meinung haben als sie, sie glorifizieren oder verdammen. Aber das einzige was du nicht machen kannst, ist sie zu ignorieren. Denn sie verändern die Dinge… sie bringen die Menschheit voran und während einige sie als die Verrückten sehen mögen, sehen wir ihr Genie. Denn diejenigen die verrückt genug sind zu denken, dass sie die Welt verändern könnten, sind diejenigen, die es tun.“

Jeder von uns kann die Welt verändern. Wir müssen es nur wagen. Über unseren Schatten springen und unsere Ängste hinten anstellen. Wir müssen daran glauben, dass wir es können. Und wir müssen unsere Träume aussprechen, sie in Taten umsetzen und sehen, wie aus unserer Vision Realität wird.


Mit freundlicher Genehmigung von Weltenschubserin.


Aie Al-KhayatAie Al Khaiat ist Bloggerin, Pazifistin, Feministin, Weltenbummlerin und angehende Philosophin.


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aie-alkhaiat@hotmail.de Fri, 03 May 2019 09:53:36 +0200
Massaker von Christchurch, „Alte Rechte“ und „Neue Rechte“ und ihre unterschiedlichen Reaktionen https://www.multiperspektivisch.de/nachricht/detail/58.html Wenn man das rechte und rechtsextreme politische Spektrum im Westen - nicht nur in Deutschland -... Wenn man das rechte und rechtsextreme politische Spektrum im Westen - nicht nur in Deutschland - näher analysiert, bieten sich verschiedene Möglichkeiten an, um diverse Strömungen zu unterscheiden: Neonazismus, Nationale Sozialisten, Nationalkonservative, Neokonservative, Rechtsliberale und so weiter. Manche Querfront-Ansätze scheinen sogar die Unterschiede zum Linksextremismus zu verwischen und werfen die Frage auf, ob das gängige „Rechts-Links-Schema“ überhaupt noch sinnvoll aufrechtzuerhalten ist. Am geläufigsten ist dabei wohl die Unterscheidung zwischen der „Alten Rechten“ und der „Neuen Rechten“. Es soll hier zunächst darauf hingewiesen werden, dass der Terminus „Neue Rechte“ in der Politikwissenschaft „sehr unterschiedlich und nicht selten auch diffus verwandt“ wird. (Salzborn 2014) Die „Neue Rechte“ hebt sich demnach durch den Versuch der Intellektualisierung der Rechten, das Konzept des Ethnopluralismus (die Ungleichheit der Menschen wird durch ethnisch-kulturalistische Kriterien begründet) und einer konservativen Kulturrevolution von der "Alten Rechten" ab. (Ebenda)

Es gibt jedoch ein Unterscheidungsmerkmal, dass in politikwissenschaftlichen Untersuchungen weniger berücksichtigt wird, dass aber gerade anhand der Reaktionen auf den kürzlichen Terroranschlag im neuseeländischen Christchurch mit über 50 ermordete Muslim*innen wieder deutlich hervortritt und eine weitere Unterscheidung zwischen der „Alten“ und der „Neuen Rechten“ erlaubt. Aus der „Freund-Feind-Unterscheidung“ (Carl Schmitt, Begriff des Politischen) ergibt sich das jeweilige Welt- und Feindbild. Während zumindest für Teile der „Alten Rechten“ die „Front“ zwischen den Staaten verläuft, die ihre Souveränität bewahren wollen (Russland, Iran, Nordkorea, Syrien usw.) und den Staaten, die durch ihre imperiale Politik unter der Herrschaft des Finanzkapitals bzw. der „Hochfinanz“ die Souveränität anderer Länder bedrohen  (die USA, Israel und ihre „Vasallen“), sind es für die „Neue Rechte“ die „muslimischen Invasoren“ in den westlichen Ländern beziehungsweise der Islam überhaupt. Ganz deutlich tritt der Konflikt zwischen der „Alten“ und „Neuen Rechten“ zum Beispiel auch in der Familie Le Pen hervor. Während für den Front National-Gründer Jean-Marie Le Pen - und überhaupt die alte (extreme) Rechte - noch die „jüdische Hochfinanz“ der Feind ist, sind es für seine Tochter und derzeitige Chefin, Marine Le Pen, die Muslime und der Islam. In allen heutzutage erfolgreichen rechten Parteien in Europa kommt an erster Stelle die Feindschaft zum Islam zum Ausdruck – mit einer Ausnahme, nämlich die ungarische Jobbik-Partei, die den Islam wegen seiner „wertkonservativen“ Positionen sogar ausdrücklich als Vorbild hinstellte. Die Muslimfeindlichkeit hat die Judenfeindlichkeit bei der heute dominierenden „Neuen Rechten“ somit längst abgelöst, doch die Mainstream-Politik reagiert auf diese Veränderung nicht, weil die Tragweite dieser Veränderung den politisch Verantwortlichen offenbar nicht bewusst ist beziehungsweise durch die Rede vom vermeintlich "islamischen Antisemitismus" teilweise bewusst verdrängt wird.

Reaktionen der "Alten Rechten"

So kann im Internet beispielsweise die Website "Political Incorrectly", deren Niveau so niedrig ist, das sogar Julius Streichers berüchtigtes Hetzblatt „Der Stürmer“ dagegen als Qualitätsjournalismus wirkt, auf primitivste Weise hetzen, bis sich noch mehr Attentäter wie in Christchurch herangezüchtet worden sind. Die Reaktionen bei den Anhängern der „Neuen Rechten“ lässt tief blicken und machen deren Menschenverachtung und Gefährlichkeit deutlich. Betrachten wir kurz die Reaktionen der "Alten" und "Neuen Rechten" auf das Massaker von Christchurch.

Bei der NPD, die ideologisch zur „Alten Rechten“ zählt, fällt auf, dass über die Ereignisse in Neuseeland überhaupt nicht (weder auf den diversen Facebook-Seiten noch auf Webseite) berichtet oder diskutiert wird. Statt dessen findet man auf der aktuellen Internetseite einen Bericht über den Besuch des einzigen NPD-Europaabgeordneten im Libanon, der dort libanesische Kämpfer durch eine Kranzniederlegung im zentralen Märtyrerschrein der Hisbollah im Beiruter Stadtteil Rubeiri ehrt. Programmatisch macht die NPD demnach einen Unterschied zwischen dem „Islam als Religion“ und der „Islamisierung“.

Bei der ca. 500 Mitgliedern zählenden Partei „Der III. Weg“, die vor allem bei Jugendlichen Anklang findet und einen nationalen Sozialismus für Deutschland propagiert, findet man ein gemischtes Bild. Es gibt einen offiziellen Artikel auf der Homepage, in dem der Terroranschlag als „Gegenwehr“ gerechtfertigt wird: „Es grenzt fast an ein Wunder, dass die islamische Herausforderung bislang so wenig Gegenschläge provozieren konnte.“ Dies stößt aber in der Diskussion unterhalb des Artikels auf Widerspruch: „Ich finde, wir müssen uns hüten, ins kontraproduktive AfD-Horn („Feindbild Islam“) zu stoßen“, so ein Sympathisant. Hier fällt auf, dass die Kritik am Staat Israel nach wie vor einen großen Raum einnimmt, es kommt zur Debatte. Es wird dabei darauf hingewiesen, dass sich der Attentäter 2016 auch in Israel aufgehalten und in seinem Manifest ebenfalls Israel als Staat anerkennt habe, was eine Mossad-Steuerung des Attentäters suggerieren soll. Es finden sich aber auch solche Aussagen: „Der Vorfall in Christchurch bringt keine Nachteile. Da die ganze Welt immer nur Angstgesteuert ist bringt das sogar VORTEILE die evtl. nicht Jeder gleich erkennt.“

Reaktionen der "Neuen Rechten"

Kommen wir nun zur Reaktion der „Neuen Rechten“. Der AfD-Bundestagsabgeordnete Jan Nolte sprach den Opfern und Hinterbliebenen des Massakers immerhin seine Anteilnahme aus. Er verwahrte sich auf Facebook gegen den Anspruch des Attentäters, das christliche Europa zu repräsentieren: „Das einzige Lager, auf das Sie sich berufen können, ist das der Terroristen, der Feinde der Gesellschaft. Sie stehen in den Reihen der Charlie-Hebdo-Attentäter und der Mörder von Bataclan. Sie sind nicht Fürsprecher, sondern Feind eines christlichen Europas. Wer das christliche Abendland bewahren und seine Werte hochhalten will, der kennt für Kriminelle wie Sie nur einen Ort: das Gefängnis!“

Die Anhänger der AfD jedoch wissen genau, was von solchen Äußerungen zu halten ist. Für die Leser-Kommentatoren des Magazins Compact, das als Sprachrohr der AfD- und Pegida-Anhänger gilt, scheint es völlig klar zu sein, dass eine solche Verurteilung des Terroranschlags offiziell erfolgen muss, um keine Wähler abzuschrecken, „was soll ein Politiker des BT [Bundestags] auch sonst sagen als sich von Gewalt zu distanzieren“ schreibt etwa der Leser "Thüringer I." und fügt hinzu, dass es eigentlich ja aber jeder wisse, dass es nicht ohne Gewalt gehe: „Man stelle sich jetzt aber mal vor wie das bei anderen Invasionen gehen sollte? Hätte Arminius einen Stuhlkreis bilden sollen um mit Varus alles erstmal auszudiskutieren und dann demokratisch darüber abzustimmen das sich die Römer vom Acker machen? Hat der Kampf gegen die Türken bei Wien es möglich gemacht, sie zurückzudrängen oder hätte da die Demokratie eher geholfen?“ Die Ablehnung der Demokratie und der Einsatz von Gewalt werden hier ungeniert deutlich ausgesprochen. Der Leser "Irgendwehr" pflichtet bei und erklärt, dass hier nur „Gleiches mit Gleichem“ vergolten werde, „die eigene Medizin schmeckt bekanntlich bitter“. Für ihn ist das Massaker an unschuldigen Menschen ebenso wohl legitime Gegenwehr: „Gegenwehr von Seiten eines Christen hatten die Globalisten und Islamisten wohl nie auf dem Schirm.“ Die Leser haben teilweise sogar die Auffassung, dass die ermordeten Muslim*innen ja überhaupt nicht unschuldig seien. So spricht es beispielsweise der Leser "Sokrates" aus, der bezweifelt, dass es sich um unschuldige Menschen handeln würde, denn sie seien ja Muslime und damit wären sie schuldig: „Massaker an 'unschuldigen Menschen'. Aber diese 'unschuldigen' Menschen hingen doch einer 'faschistischen Ideologie ' namens Islam an ? So jedenfalls bis gestern die Lesart, nicht ? Faschistisch und unschuldig geht zusammen,wußte Ich schon immer, aber von anderer Seite überrascht das.“

Resümee

Es soll bei diesen wenigen Kommentaren belassen sein - man findet in zahlreichen Foren offene Sympathie für den massenmordenden Terroristen und die Rechtfertigung seiner Untat. Das alles zeigt, dass die muslimfeindliche „Neue Rechte“ in ihrer Gefährlichkeit die judenfeindliche „Alte Rechte“ gegenwärtig bei weitem übertrifft, haben doch die Anhänger dieser Strömung ein Interesse daran, durch „Gegenwehr“ auf vermeintliche „muslimische Aktionen“ zu reagieren beziehungsweise dazu aufzufordern und die Eskalationsspirale immer höher zu treiben, bis das Ganze in einem Bürger- oder Religionskrieg endet. Dies war in der Tat auch die Strategie vom IS und seines Vorläufers im Irak, durch massive Angriffe auf Schiiten endlich Gegenreaktionen zu erzeugen, damit gegenseitig sich Sunniten und Schiiten die Köpfe einschlagen.

Markus FiedlerDr. phil. Markus Fiedler ist Autor von mehreren Büchern und zahlreichen Artikeln mit dem Schwerpunkt Islam und Muslime in der europäischen Wahrnehmung.


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dr.markusfiedler@hotmail.de Wed, 20 Mar 2019 11:08:00 +0100
Ist Allah ein grausamer Gott? https://www.multiperspektivisch.de/nachricht/detail/57.html In Verbindung mit dem Vorgehen von Terrororganisationen wie dem IS und der Al-Qaida und den von... In Verbindung mit dem Vorgehen von Terrororganisationen wie dem IS und der Al-Qaida und den von ihnen verübten Exzessen wird immer wieder der Eindruck vermittelt, die Muslime würden einen grausamen Gott, verehren der so ein Vorgehen anordnen oder wünschen würde. Insbesondere im Zusammenhang mit der Umsetzung des Islamischen Rechts (im Fachjargon: Scharia) wird Allah immer wieder als grausamer Gott dargestellt. So wurde in der preisgekrönten Dokumentation "Sterben für Allah? Deutsche Gotteskrieger auf dem Weg nach Syrien" nicht nur suggeriert, dass es sich bei Allah um einen anderen Gott als den der Christen handeln, sondern dass dieser den Muslimen solche Taten nahelegen würde. Nach der islamischen Religion, wie sie sich aus dem Koran, dem heiligen Buch der Muslime, und der prophetischen Überlieferungen (im Fachjargon: Sunna) darstellt, ist allerdings nichts falscher als dies. Dies soll im Folgenden etwas näher erläutert werden.

Der Koran macht deutlich, dass mit Allah der Schöpfer der Himmel und der Erde gemeint ist, dem die schönsten Namen eigen sind: "Er ist Allah, der Schöpfer, der Erschaffer, der Gestalter. Sein sind die schönsten Namen." (Sure 59, Vers 24). Er ist der eine, der einzige Gott, den Abraham, Moses und Jesus verkündet haben: "Sagt: Wir glauben an Allah und an das, was zu uns (als Offenbarung) herabgesandt worden ist, und an das, was zu Abraham, Ismail, Isaak, Jakob und den Stämmen herabgesandt wurde, und (an das,) was Moses und Jesus gegeben wurde, und (an das,) was den Propheten von ihrem Herrn gegeben wurde." (Sure 2, Vers 136) Im Hinblick auf die Christen stellt der Koran fest, dass "unser Gott [der der Muslime] und euer Gott [der Gott der Christen]  ein- und derselbe" ist. (Sure 29, Vers 46) Wer eine arabische Bibel in die Hand nimmt, wird dort ebenfalls bestätigt finden, dass Gott auch hier mit „Allah“ bezeichnet wird. Das arabische Wort Allah ist somit „kein Eigenname wie Zeus, sondern ein Appellativ wie ‚theos, Deus, Dieu’ und daher mit Gott zu übersetzen.“ (Prominenter Theologe und römisch-katholischer Priester Hans Küng, "Der Islam" 2006, S. 16)

Einen besonderen Stellenwert in der Offenbarung nehmen die am Anfang jeder Sure stehenden Bezeichnungen "rahman" und "rahim" ein, was gewöhnlich mit "der Allerbarmer, der Barmherzige" übersetzt wird. In vielen Koranversen (wie z.B. in der Sure 12:64) wird Allah als "der Barmherzigste aller Barmherzigen" bezeichnet. In zahlreichen prophetischen Überlieferungen wird deutlich, dass Er denen Barmherzigkeit zukommen lässt, die selbst barmherzig sind. Wer sich aber von der Barmherzigkeit abwendet, dem wird sie von Ihm versagt. Diese islamische Lehre kann in unseren Tagen nicht oft genug betont werden.

So heißt es in einem prophetischen Überlieferung bei Tirmidhi 3,211: "Allah spricht: 'Ich bin Allah, und ich bin der Allerbarmer. Ich habe das Erbarmen erschaffen und ihm einen Namen von meinen gegeben. Wer Erbarmen schenkt, dem werde ich Erbarmen schenken. Und wer sich von dem Erbarmen abwendet, den werde ich vom Erbarmen abwenden.'" In einer anderen Überlieferung sagt der Prophet des Islams, Mohammed ibn Abdullah: "Wer sich nicht erbarmt, dem wird sich nicht erbarmt." (Bukhari 22,107) Und in einer anderen prophetischen Überlieferung heißt es: "Sucht die Gaben bei den Barmherzigen, denn in sie habe ich meine Gnade gelegt. Sucht sie nicht bei den Hartherzigen, denn in sie habe ich meinen Zorn gelegt." (Ghazzali 3,244) Von Mohammed ist auch Folgendes überliefert: "Wahrlich, die Milde kann nirgendwo innewohnen, ohne zu zieren, und sie kann nirgendwo weggenommen werden, ohne eine Verschlechterung zu hinterlassen." (Muslim 16, 146) Und weiter hat er sich auch wie folgt geäußert: "Den Barmherzigen ist Allah barmherzig. Seid barmherzig gegenüber denen, die auf Erden sind, dann sind auch die im Himmel euch gegenüber barmherzig." (Abû Dâwûd, Adab, 58) Hier wird somit deutlich, dass man den Islam durchaus als Religion der Barmherzigkeit interpretieren kann. Im Vers 54 der  Sure 6 heißt es, dass sich Allah selbst zur Barmherzigkeit verpflichtet hat. Und im Vers 156 der Sure 7 kann man Folgendes lesen: „Meine Barmherzigkeit umfasst alles.“ Der Prophet Mohammed wurde nach islamischer Überzeugung „als eine Barmherzigkeit für alle Welt“ gesandt (Sure 21, Vers 107). Die Barmherzigkeit wird im Islam gegenüber allen Lebewesen – auch gegenüber Tieren – gefordert.  (Vgl. z.B. Riyad as-Salihin, 1610)

Wer sich erbarmungslos verhält, wird nach diesen islamischen Lehren bei Gott selbst kein Erbarmen finden. Warum Menschen zu einem so grausamen Verhalten wie die IS-Terroristen in der Lage sind, ist eine andere Frage. Dies ist aber auch keine Spezialität des Islams, sondern man kann solche Grausamkeiten leider auch in allen anderen Religionen und selbst säkularen Weltanschauungen finden.

Markus FiedlerDr. phil. Markus Fiedler ist Autor von mehreren Büchern und zahlreichen Artikeln mit dem Schwerpunkt Islam und Muslime in der europäischen Wahrnehmung.


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dr.markusfiedler@hotmail.de Thu, 28 Feb 2019 14:11:11 +0100
Konstruiertes Spezifikum: Muslimische Minderheit in Deutschland https://www.multiperspektivisch.de/nachricht/detail/56.html Warum werden in Zeiten von besorgniserregenden politischen Ereignissen die Fragen nach Identität... Warum werden in Zeiten von besorgniserregenden politischen Ereignissen die Fragen nach Identität und Freiheit vermehrt in der Abgrenzung zum Islam und den Muslimen thematisiert? Deutschland plagt eigentlich ein Pflegenotstand, eine immer größer werdende Schere zwischen Arm und Reich, Kinderarmut, Bildungsungleichheit, eine "organisierte Kriminalität" von Bankern, Brokern, Beratern und Investoren, die den deutschen Staat um sage und schreibe mehr als 30 Milliarden Euro - bis heute ungestraft - geplündert haben und und und. Man vernimmt allerdings ständig ausgrenzende Debatten zur Identität, Freiheit und Neutralität. Ausgetragen werden solche Diskussionen auf den Rücken derer, die diese Diskussionen zwar ausmachen, aber die dabei offenbar nicht mitreden (dürfen).

Mit politischen Begriffen wird die Sozialität einer Mehrheit begründet, um mit gesenktem Zeigefinger auf die muslimische Minderheit zu zeigen und sich über ihre vermeintliche Asozialität zu echauffieren. Sie belehrt die Minorität, wie man sich in dieser Gesellschaft zu verhalten hat und sie fordert einen Werteunterricht für Neuankömmlinge, ähnlich wie es der Anspruch der Kolonialisten gegenüber den "Wilden" war. Mit auf sie drückendem Zeigefinger und mit Ablehnung soll diese Minorität lernen, wie man in der Gesellschaft aufzusteigen hat. Der Komiker und Satiriker Abdelkarim vergleicht es mit einem Discobesucher, der zwar nicht reinkommt, aber trotzdem mittanzen soll.

Welche Diskurslogik steckt also dahinter, dass gegen den Islam und Muslimen gerichtete Identitätsdebatten und Fragen nach Freiheit und Fortschritt gerade in Zeiten aufkommen, in denen ganz andere Arten von gesellschaftlichen und politischen Problemen entstehen, die wirklich die breite Masse betreffen? Und stets wird eine Bedrohung von Identität, Freiheit und Fortschritt der Mehrheitsgesellschaft durch die muslimische Minderheit konstruiert.

Es mutet angesichts dieses künstlich am Leben gehaltenen, aber umso massiveren Diskurses nicht seltsam an, warum andere Anschauungen von Minderheiten von diesen „Anerkennungsdebatten“ ausgenommen sind. Zwar war es richtig, sich mit Juden zu solidarisieren, als ein Junge aus antisemitischer Intention heraus einen Menschen auf offener Straße mit einem Gürtel schlug - aber als im Vergleich dazu einem muslimischen Mädchen auf offener Straße das Kopftuch von einem erwachsenen Mann, samt Haarsträhnen, heruntergerissen wurde, war es auffällig, dass es keinerlei ähnliche Solidarisierungsbekundungen gab. Der Ministerpräsident von Nordrhein Westfalen, Armin Laschet (CDU), kündigte dagegen sogar eine Vorbereitung des Kopftuchverbots an.

Dass die muslimische Diaspora bei ihnen widerfahrenen Gewalttaten von der Politik im Stich gelassen wird und sie sich sogar unangemessen verhält, ist in den letzten Jahren eine sich wiederholende Praxis. So bekundete beispielsweise der neu ernannte Innenminister Horst Seehofer (CSU) in seinem ersten Interview - just nachdem es mehrere Angriffe auf Moscheen und andere muslimische Einrichtungen gab - sogar, dass der Islam nicht zu Deutschland gehöre. Anschließend diskutierte man so umfassend wie ungenau den Antisemitismus unter Muslimen, so als ob er ihm erst mit ihnen in Deutschland gibt. Und schließlich wurde das Kopftuchverbot für unter 14- jährige Schülerinnen zur Prüfung veranlasst.

Zur Rekapitulation: Nachdem durch Gewalt offenbart wurde, dass es eine Islam- bzw. Muslimfeindlichkeit gibt, halten es einige führende Politik für richtig, über die Aberkennung des Islams, über die Feindlichkeit der Muslime und über den Zwang der muslimischen Eltern gegenüber ihren muslimischen Töchtern zu debattieren, statt sich schützend vor die verletzliche Minderheit zu stellen. Moralisch gesehen, höchst fragwürdig - und auch sehr taktlos. Oder vielleicht gerade taktvoll? Denn mit diesem einseitigen Bashing lässt sich ein Wahlkampf führen.

Dass man aber in den Grundrechten der Muslimen eingreifen und ihre Bekleidung und Handlungsfreiheit einschränken will, um eine vermeintliche Neutralität zu kreieren, ist vielmehr ein Ausdruck der Unfähigkeit zur selbstherrlich propagierten Modernität und Aufgeklärtheit. Es offenbart die Hilflosigkeit, im 21. Jahrhundert nicht mit echt verschiedenen Denkweisen und Anschauungen umgehen zu können. Wenn eine Frau mit Kopftuch, ein Sikh mit Turban, ein Jude mit Kippa, eine Christin mit Kreuz und ein Atheist mit dem Fehlen eines religiösen Zeichens (das auch als ein Ausdruck einer Position und Weltanschauung zu verstehen ist) erfolgreich und problemlos miteinander arbeiten, dann sollte sich das nicht wie der Anfang eines unterhaltsamen Witzes anhören, sondern normale Realität sein.

Es gibt Gesellschaften, in denen solch eine Vielfalt in der Öffentlichkeit angestrebt wird, wie z.B. in Kanada. Was dort als Mehrwert betrachtet wird, ist den Deutschen offenbar ein Graus. Allerdings hat Deutschland auch eine andere Einwanderungsgeschichte als Kanada. Hier wurden Migranten hereingelassen, die Deutschland aufbauen und danach wieder verlassen sollten. Darauf wartet man offensichtlich noch immer. Es hält sich der hartnäckige Widerwillen, muslimische Gruppen, die in Deutschland die Wurzeln ihrer Identität geschlagen haben, anzuerkennen.

Es ist daher nicht von ungefähr, dass nicht selten die muslimische Minoritäten und jene, die ihre Benachteiligung beklagen, als Unruhestifter wahrgenommen werden. Sie werden als Opfer verhöhnt, als Übertreiber, als Rebellen, als jene, die den gesellschaftlichen Frieden in Gefahr bringen, und deswegen werden sie mit Beschränkungen belegt plus einer „ihr-seid-unterlegen“-Message. In der Logik des Überlegenen ist das schlüssig: Widerstand von Minderwertigen gegen eine Maßnahme, die ich verhängt habe, ist eine Zumutung! Dementsprechend hat unter den Muslimen das diskutierte Kopftuchverbot für Schülerinnen zwar Widerstand erweckt, aber ihre Twitter-Hashtag-Aktion (#nichtohnemeinkopftuch) und auch sonstige Gegenstimmen wurden abwechselnd belächelt oder auf die „Islamistenschiene“ geschoben.

Der wissenschaftliche Dienst des Bundestags und auch andere Juristen bestätigen jedoch, dass ein Kopftuchverbot verfassungswidrig sei. Der wissenschaftliche Dienst zitiert hierbei das Bundesverfassungsgericht, das allerdings die Ausnahme anführt, dass bei Störung oder Gefährdung des Schulfriedens die religiöse Bekundung zu untersagen sei.

Inwiefern kann aber die Anwesenheit eines kopftuchtragenden Mädchens zur Gefahr für den Schulfrieden werden? Mobbt dieses Mädchen mit dem bloßen Tragen ihres Kopftuchs andere und ist sie damit eine Gefährderin? Sollte bei einer solchen Erwägung nicht klugerweise ein solcher Betrachter seine Sichtweise revidieren? Denn zumal wenn in diesem politisch-gesellschaftlichen Klima abermals ein Mädchen aufgrund ihrer religiösen Bekleidung gemobbt wird, würde man aller Voraussicht nach das Opfer kriminalisieren und zugunsten des Täters und seiner diskriminierenden Haltung urteilen. Dies wäre wie der Vorfall, in dem einem Mädchen das Kopftuch weggerissen und danach über eine Vorbereitung des Kopftuchverbots diskutiert wurde.

Warum wird überhaupt ein Verbot ernsthaft erwogen, welches zumindest verfassungsrechtlich fraglich ist? Was für einen Einfluss haben solche Debatten auf die werdende Identität von Muslimen und deren Kinder? Das Argument des Kindeswohl kann es nicht sein, da bei einem Verbot damit zu rechnen ist, dass die kopftuchtragenden Mädchen ausgegrenzt und mit Gewissenskonflikten beladen werden. Hat man überhaupt mit Frauen und Mädchen, die das Kopftuch freiwillig tragen, über den Grund ihres Tragens geredet? Will man den Grund überhaupt in Erfahrung bringen? Will man hören und kann man akzeptieren, dass sie es primär aus spirituellen Gründen tragen, oder beharrt man auf das konstruierte „Anti-Sex-Argument“, das sie selbst nicht anführen?

Unbescholtene Minderheiten integrieren sich nicht besser, wenn man sie mit Prohibitionen gängelt, vielmehr führt dies zum Gegenteil. Das Grundgesetz gilt für alle Bewohner Deutschlands, auch für die Minoritäten und ihre Kleinsten.


Jasmin Mazraani Jasmin Mazraani ist Islam- und Sozialwissenschaftlerin und forscht über das politische und kulturelle Leben von Minoritäten.


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jasmin_ma@outlook.de Wed, 30 Jan 2019 20:14:36 +0100
Die liberale Demokratie und ihre Mythen https://www.multiperspektivisch.de/nachricht/detail/55.html Die Demokratie (Griechisch für "Macht des Volkes"), insbesondere die repräsentative...

Die Demokratie (Griechisch für "Macht des Volkes"), insbesondere die repräsentative Demokratie, gilt heutzutage bei den Mainstream-Medien und in öffentlichen Diskursen als unumstritten. Sie gilt als das politische Vorzeigesystem und als beste Form der Repräsentation des Volkes. Trotz des durch den Begriff suggerierten Inhalt, dass die Macht vom Volk käme, liefen bereits im Geburtsort der Demokratie, im antiken Griechenland, anderweitige Mechanismen ab.

Ursprünge der Demokratie

Das damalige Griechenland setzte sich aus mehreren Stadtstaaten zusammen. Das griechische Staatensystem umfasste zu Spitzenzeiten schätzungsweise vier Millionen Menschen. Im größten Stadtstaat und politischen Zentrum, in der Polis von Athen, lebten ungefähr 250.000 Menschen, wovon jedoch ein nicht unerheblicher Teil Sklaven waren, und davon waren schätzungsweise 50.000 - 60.000 erwachsene männliche Bürger.

Im Zuge der Etablierung demokratischer Strukturen wurde eine Art Verfassung entwickelt. Darin waren die Pflichten und Rechte der Bürger verankert, um Ordnung zu schaffen, Bürgerkriege und sowohl  politische als auch ökonomische Verwerfungen zu vermeiden. Für die Volksversammlung, die mindestens viermal pro Monat stattfand, erhielten alle männlichen Bürger Athens Stimmrecht, und sie beschloss demokratisch Gesetze und wählte Beamte. Frauen und Sklaven konnten nicht als Volksvertreter an der Volksversammlung teilhaben und hatten demnach auch weder aktives noch passives Wahl- bzw. Stimmrecht. Als Bürger wurden alle Männer aufgefasst, die den Wehrdienst abgeleistet hatten, deren Eltern beide Athener waren und die beispielsweise durch Steuerschulden nicht das Bürgerrecht in Form der Teilnahme an den Versammlungen verloren hatten.

Manifestation des Patriarchats und der Klassenteilung der Attische Demokratie

Das Bürgerrecht wurde damit zur unabdingbaren Voraussetzung, um an der gelebten athenischen Demokratie teilzuhaben. Ausschlaggebend war hierbei, dass der Zugang zur Volksversammlung nicht nach Privatvermögen gemessen wurde und demnach theoretisch allen - unabhängig vom sozialen Stand - zur Teilhabe offenstand. Obwohl die Bürger in diesem Rahmen gleiches Recht und die gleiche Freiheit hatten, als direkte Repräsentanten des Volkswillens zu agieren, gab es dennoch eine gewisse Hürde für sie, um Ratsmitglieder und Inhaber von Ämtern (Beamte) zu werden. Als Diener des Volkes waren sie weder durch Immunität geschützt noch wurden sie entgeltlich entschädigt. Aus diesem Grund konnten nur vermögende Bürger der Aristokratie diese Ämter bekleiden, da sie von ihrem eigenen Vermögen leben mussten, um politische Posten innehaben und eine politische Karriere verfolgen zu können.

Auf diese Weise wurde es wohlhabenden Männern per Gesetz ermöglicht, als herrschende Klasse Politik zu ihrem Vorteil und zum Vorteil ihres Privateigentums zu machen. Die "demokratischen" Verhältnisse in der Antike waren hauptsächlich bestimmt von Güterverteilung und Eigentumsschutz in einer Klassengesellschaft.

Liberalismus und die Etablierung liberaler Demokratien in der jüngeren Geschichte

Die Eigentumsverhältnisse in einer vorindustriell strukturierten Gesellschaft werden als der Grundbaustein der erst zwischen dem 15. und 16. Jahrhundert etablierten Nationalstaaten und der sich entwickelten Industrialisierung - mit dem Ergebnis eines expandierenden Kapitalismus - angesehen. Aus diesem Kontext heraus erscheint es von zentraler Bedeutung, die herrschende Ideologie des Kapitalismus und ihre historische Bilanz im Verhältnis zur Demokratie zu hinterfragen.

Die Demokratie spielt in den als „modern“ beschriebenen - zumeist europäischen - Gesellschaften eine große Rolle. Sie ist das Sinnbild der politischen Partizipation der Massen, der Gerechtigkeit und der Wertschätzung der Mitbürger*innen. Der Preis für die Neuetablierung demokratischer Republiken in Europa war - vor dem Hintergrund zweier faschistischer und sozioökonomisch verheerender Weltkriege - sehr hoch. Deswegen gelten Demokratien als ein mit allen Mitteln zu schützendes Gut, da es erst mit den neuen Demokratisierungsansätzen nach der Stunde „Null“ im Jahr 1945 zu Frieden und Wohlstand auf dem europäischen Kontinent kommen konnte.

Seit der Demokratie im antiken Griechenland haben sich global viele politökonomische Änderungen vollzogen. Die Frage nach der Rolle von Demokratien in heutigen Staaten steht in Verbindung mit dem Einbruch des modernen Liberalismus und des Demokratisierungsprozesses. Ausgehend von der herrschenden Meinung in Deutschland und auch in Europa, dass die liberale Demokratie unabdingbar für Frieden und Gerechtigkeit sei, ist eine genauere Betrachtung der Dialektik des Liberalismus von großer Wichtigkeit. Der Liberalismus verspricht (individuelle) Freiheit und (rechtliche) Gleichheit, was oft ebenfalls durch demokratische Systematiken beworben wird. Diese individuelle Freiheit, die durch altbekannte Redewendungen (wie „Jeder ist seines Glückes Schmied“) gesellschaftlich verankert wird, betont euphemistisch den Preis, der für diese vermeintliche individuelle Freiheit zu zahlen ist: Kapitalismus -  oder mit anderen Worten auch „freie Marktwirtschaft“.

„Da der Kapitalismus auf Privateigentum, Konkurrenz und Profit basiert, ist das liberale Freiheitsversprechen folglich nicht ungetrübt.“ (vom Politikwissenschaftler und Histroiker Axel Rüdiger)

Anders als ab ungefähr Mitte des 20. Jahrhundert, fungierte der Staat zwischen dem 19. Jahrhundert und zu Beginn des 20. Jahrhunderts einerseits als politische Instanz, war andererseits jedoch nicht mit der kapitalistischen Marktökonomie identisch. Obwohl wirtschaftliche Interessen präsent waren und die Gesellschaft als auch Staat dominierten, waren beide weitestgehend doch selbstständig und vom Kapitalismus trennbar. Die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts war aber nicht nur von faschistischen (Welt-)Kriegen geprägt, sondern auch von der russischen Oktoberrevolution von 1917, die Auswirkungen auf das Ende des alten liberalen Zeitalters und dadurch auf die Etablierung von neuen liberal-demokratischen Werten hatte. Letztere drückten ein gesellschaftlich vorhandenes Bedürfnis nach einer konstitutionellen Regierungsform mit frei gewählten Regierungen und repräsentativen Parlamenten, nach Bürgerrechten wie Redefreiheit, Pressefreiheit und so weiter aus. Auf diese Weise sollten sich Staat und Gesellschaft - in ihrer durch demokratische Prinzipien entstandenen starken Verwobenheit - an der Vernunft und der Verbesserung der menschlichen Lebensbedingungen orientieren.

Der Mythos der individuellen Freiheit und Chancengleichheit

Basierend auf den zwei Hauptversprechen im Liberalismus, verspricht auch die liberale Demokratie individuelle Freiheit und rechtliche Gleichheit. Auf diese Weise werden jedoch strukturelle Probleme mit der Argumentation von der angeblich gleichberechtigten und allen zugänglichen gesellschaftlichen Partizipation in Form der repräsentativen Demokratie verschleiert.

Ausgehend von einem der zwei Hauptargumente liberaler Demokratie, dass jeder Mensch  eine individuelle Freiheit habe, ist es unerlässlich zu betonen, dass Menschen nicht nur Individuen mit persönlichen Bedürfnissen und Problemen sind, sondern auch soziale Wesen. Menschen stehen auch in gewisser überlebenswichtiger Abhängigkeit zueinander. Durch das dominant vertretene Argument der Individualität und individuellen Freiheit wird dies jedoch zunehmend verschleiert und somit sowohl persönliche als auch kollektive Ausbeutung legitimiert, da jeder Mensch „seines Glückes Schmied“ und damit selbst verantwortlich für das eigene Schicksal sei. Strukturelle Probleme wie Rassismus, Sexismus und Armut in der globalen Gesellschaft werden oftmals als Herausforderung dargestellt, die individuell oder auf rein politischer Ebene zu lösen sind.

Zum Beispiel sind sowohl Rassismus als auch Sexismus Diskriminierungsformen, die allseits präsent sind und die sowohl in manchen Regionen wie auch industriellen Sektoren stärker ausgeprägt sind als in anderen. Sie ziehen sich durch alle staatlichen und nicht-staatlichen Organisationen sowie Institutionen und werden damit eben nicht nur auf staatlicher Ebene, sondern auch gesellschaftlich und kulturell reproduziert. Es sind Diskriminierungsformen, die in kapitalistisch-patriarchal strukturierten Gesellschaften unter anderem als Werkzeuge zur Erhaltung und Reproduktion von Herrschaftssystemen dienen. Durch rassistische Bilder werden  Personen aufgrund ihres Hauttons und im Rahmen der - erst zwischen dem 15. und 16. Jahrhundert etablierten - Nationalstaaten aufgrund bestehender, jedoch konstruierter (nationaler) Grenzen und der konstruierten Nichtzugehörigkeit auf vielen Ebenen von der politischen sowie gesellschaftlichen Teilhabe und damit oftmals auch von der „siegreichen" Teilhabe an der „freien Marktwirtschaft“ ausgeschlossen.

Konkludierend wird auf diese Weise sukzessive der Anschein erweckt, dass wenn es beispielsweise Rassismus, Sexismus oder andere Diskriminierungsformen am Arbeitsplatz gibt, es sich um „Einzeltaten“ handele und diese dann auch individuell, etwa in einzelnen Arbeitskämpfen, zu lösen sind. Rassismus und Sexismus werden so nicht nur in ihrer gesellschaftlichen Präsenz verschleiert, sondern auch in ihrer Funktionsweise in kapitalistischen Strukturen und Herrschaftsmechanismen. Das wird besonders deutlich bei unterschiedlichen Regelungen am Arbeitsplatz für Migranten und Nichtmigranten bzw. an der Gender Pay Gap. In Deutschland verdienen Frauen für die gleiche Arbeit im Durchschnitt immer noch ca. 22% weniger als Männer. Der Unterschied in den Renten zwischen Männern und Frauen liegt bei durchschnittlich 45%. Hierbei handelt es sich nicht um Einzelfälle, sondern um strukturelle Herausforderungen, die auch als solche betrachtet und gelöst werden müssen.

Ein weiterer Aspekt ist in diesem Kontext der Mythos um die Chancengleichheit. In spät-kapitalistischen Gesellschaften - wie in Deutschland - wird zunehmend über soziale Gerechtigkeit gesprochen, mit besonders vielen Stimmen aus der politischen Mitte. Jedoch ist „Gerechtigkeit“ als normative Größe für das menschliche Zusammenleben in neoliberalen Strukturen nicht ganz angemessen.

Durch die Akzeptanz der im Liberalismus als positivistisch angesehenen individuellen Freiheit werden zeitgleich kapitalistische Strukturen - und demnach auch das Wettbewerbsprinzip – gesellschaftlich hingenommen, wobei es - einfach ausgedrückt - Verlierer*innen und Gewinner*innen produziert. Hier gibt es keinen Anspruch auf gleiche und gerechte Verteilung von Ressourcen, sondern im besten Falle auf die von liberalen Demokratien geforderte Chancengleichheit oder Zugangsgerechtigkeit. Diesem Prinzip nach haben alle Menschen dieselben Chancen und Grundvoraussetzungen innerhalb einer durch permanenten Konkurrenzkampf charakterisierten Leistungsgesellschaft. Damit wird postuliert, dass diejenigen, die viel leisten und ihre große Leistungsfähigkeit beweisen, auch Anspruch auf einen hohen Lebensstandard haben. Diesen kapitalistischen Mythos fachen liberale Demokratien weiter an, indem nicht die unbegrenzte Profitmaximierung und Ausbeutung als das Grundproblem von Ressourcenungleichverteilung angegangen und bekämpft wird, sondern stattdessen darauf hingewiesen wird, dass alle Menschen - jedoch nur Bürger*innen -  alle vier bis fünf Jahre dasselbe Wahlrecht und eine gesetzliche - jedoch theoretische – Gleichheit genießen würden, die es ihnen ermöglichen würde, Ungleichheit individuell einzuklagen.

Die vermeintliche Repräsentation in der parlamentarischen Demokratie

Die parlamentarische Demokratie mit ihrem repräsentativen Charakter sorgt allerdings nicht dafür, dass sich Menschen als ein fester Teil einer Gesellschaft regelmäßig zusammensetzen und als von politischen sowie ökonomischen Entscheidungen im Kollektiv Betroffene entscheiden, sondern die parlamentarische Demokratie trägt in diesem Kontext nur mehr dazu bei, dass sich Menschen zunehmend voneinander entfremden und auch von politischen Entscheidungen entfremdet werden. Einerseits wird also vermittelt, dass jeder Mensch für sich selbst verantwortlich sei, andererseits wird aber jede Beteiligung an kollektiven Entscheidungsprozessen verhindert, indem die eigene „Stimme“ über Jahre an Repräsentant*innen delegiert wird. Dies hat zur Folge, dass Menschen nicht nur mehr und mehr entpolitisiert werden, sondern sich den realen gesamtgesellschaftlichen Konsequenzen ihres Handelns nicht bewusst sind und sich damit nur umso mehr auf sich Selbst als Individuen konzentrieren. Schlussendlich wird damit verlernt, sowohl Verantwortung für sich und auch für andere zu übernehmen, als auch die eigenen Rechte zu kennen und gegenüber Anderen einzufordern.

Abschließend betrachtet erzeugt die parlamentarische Demokratie in neoliberalen Gesellschaftsstrukturen -, ähnlich wie die Attische Demokratie - einen Mechanismus der Ausgrenzung und Entfremdung vom politischen Geschehen, vom kollektiven Entscheidungsprozess und von gegenseitiger Verantwortung. Es gibt keine Ressourcen- und Chancengleichheit, da liberale Demokratien auf ähnlichen Prinzipien liberal-ökonomischer Strukturen basieren, in denen es immer - insbesondere auf einer materiellen Ebene - Verlierer*innen und Gewinner*innen gibt. Die Demokratie ist demzufolge bisher in der Praxis schon immer ein Instrument der vermögenden Bürger der Aristokratie, der Reichen, der Industriellen und Großkapitalisten, der Millionäre und Milliardäre gewesen, um die weniger Vermögenden und Habenichtse effektiver zu regieren sowie ihren Abstand zu ihnen und zwischen ihnen auszudehnen.

Dimitra DermitzakiDimitra Dermitzaki ist Politikwissenschaftlerin und lebt in Berlin. Sie ist aktiv beim Frauen*streikkomitee Berlin und ist Autorin für das Lower Class Magazine. Ihre Forschungs- und Rechercheschwerpunkte sind der Rechtsruck in der griechischen Gesellschaft sowie die sozialen Auswirkungen der Wirtschaftskrise aus einer Basisperspektive als auch die europäische Asyl- und Migrationspolitik.


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dimitra.dermitzaki93@gmail.com Thu, 13 Dec 2018 17:34:11 +0100
Causa Asia Bibi – Befreit den Islam! https://www.multiperspektivisch.de/nachricht/detail/54.html Die vom Tod bedrohte Asia Bibi gehört der christlichen Minderheit in Pakistan an. Sie hat, aufgrund... Die vom Tod bedrohte Asia Bibi gehört der christlichen Minderheit in Pakistan an. Sie hat, aufgrund umdefinierter und zum Machtmissbrauch umgedeuteter Blasphemie-Gesetze, angeblich den Propheten Mohammed beleidigt. Das ist etwas, das im islamisch geprägten Pakistan einem Kapitalverbrechen gleichkommt. Zunächst erwartete sie die Todesstrafe, sie wurde dann jedoch nach jahrelanger Haft freigesprochen, was wiederum den Zorn einer sunnitisch–puritanischen Sekte erweckte, welche - in der Minderheit und als geförderter Vasall des Westens - in den 1980ern gegen die UdSSR in Afghanistan kämpfte, einen Genozid an den Schiiten in Pakistan durchführte, die Ahmadiyya-Muslime zu Freiwild erklärte, den Sufi–Islam, dem die meisten Sunniten angehören, verachtet und nun am liebsten Asia Bibi hängen sehen möchte.

Doch fangen wir zunächst an einem Punkt an, welcher die Verkettung verschiedener Ereignisse zusammenbringen soll, die uns zur jetzigen Situation führten. Untermauert mit den faktischen Gegebenheiten, die es, wenn man sich der Thematik annimmt, zurückblickend zu beachten gilt.

In diesem Zusammenhang ist die Frage zu stellen, welchen Islam es in Pakistan überhaupt gibt. Bezogen auf meine vielen Reisen und den intensiven Austausch mit meinen Kontakten innerhalb der verschiedenen Strömungen des Islams, war ich doch recht überrascht über die Tatsache, dass trotz der immensen Diversität eine militante Minderheit den Ton im theologischen Diskurs vorgibt. Die Überraschung wich allerdings, als ich die Gründe für die ultra-halsstarrige Auslegung des Islams erkundete und einen stringenten Faden vorfand, der militärisch im Sinne der asymmetrischen Form der Kriegsführung in den letzten 100 Jahren immer wieder erkennbar war und zu der „Terrorkatastrophe“ führte, die die Welt bis heute plagt. Und sie wird weiterhin geplagt werden, wenn wir nicht endlich begreifen, dass kurzfristiges Profitdenken, Machtstreben und ein Freund–Feind-Denken unwillkürlich dazu führen werden, dass es zukünftig noch mehr Fälle wie die Causa „Asia Bibi“ geben wird.

Bereits nach der Unabhängigkeit des Landes war die Politik darum bemüht, die Quadratur des Kreises zu vollbringen. Der Versuch eine religiöse Doktrin, die die Übereinstimmung aller Gesetze mit den islamischen Quellen fordert, mit den demokratischen Maßstäben, auch eine nicht-islamische Religion frei ausüben zu können, in Einklang zu bringen, erzeugte im Rückblick eine diffuse Situation, die weder „Fisch“ noch „Fleisch“ ist. 1973 erhielt das Land zunächst eine Verfassung, die jedem Bürger das Recht zugesteht, an das zu glauben was er möchte, der Sekte anzugehören, der man angehören möchte, und sie schützt die Bürger vor der religiösen Besteuerung. Eben jene in der Verfassung verankerte Religionsfreiheit führt nun zum Konflikt mit einem religiösen Dogmatismus, dem sich ultra-halsstarrige Salafisten / Wahhabiten seit den 1980ern hingeben.

Im Zusammenspiel mit den Intentionen US-amerikanischer Interessen und der finanziellen und theologischen Unterstützung aus Saudi-Arabien empfing in jenem Jahrzehnt die stark wahhabitisch geprägte "Deobandi-Bewegung" eine immense Aufwertung, welche im Afghanistan-Krieg gegen die Sowjetunion zum Einsatz kam - und später zur Stärkung der Taliban, der Entstehung von Al–Qaida, zu den Anschlägen in Washington, New York und Shanksville am 11. September 2001 und dem Entstehen des sogenannten „Islamischen Staates“ führte. Der Bogen wird sich sicherlich zu möglichen Entstehungen weiterer Terrorgruppen im Nahen Osten, in Asien, auf dem indischen Subkontinent und in Afrika zukünftig weiter spannen lassen. Eine Entwicklung, die nicht von der Hand zu weisen ist und der man sich, mit Lösungskonzepten im Zentrum, wird stellen müssen.

Im Wettbewerb um die Wahrheit, Reinheit und Deutungshoheit über den wahren Islam kam es im Laufe der Zeit zwischen den einzelnen Fraktionen islamischer Prägungen immer wieder zu Auseinandersetzungen, bei denen Tausende Schiiten - man spricht hier auch vom „Völkermord“ an den Schiiten -, zahlreiche Sufis, Ahmadiyya-Muslime und auch Christen ums Leben gekommen sind. Anfangs zu Eigenzwecken durch den pakistanischen Geheimdienst gefördert, nach dem Afghanistankrieg verstärkt als Gegenpart zum schiitischen, aber panislamisch geprägten Iran genutzt, manifestierte sich die Dominanz der „Deobandi–Bewegung“ mit ihrer extrem intoleranten Auslegung der Scharia im Land.

Nach wie vor wird diese Bewegung unterstützt durch private Finanziers aus dem Mutterland des Wahhabismus, Saudi-Arabien, vor den Augen der Weltgemeinschaft. Die „Deobandi–Ideologie“, die als Minderheit einer Mehrheit das gesellschaftliche Leben vorschreibt, hat zum Beispiel ab dem Moment, an dem sie Einfluss gewann, durch die Einführung der „Hudud–Strafen“ salafistischer Prägung, das Trinken von Alkohol und außerehelichen Geschlechtsverkehr kriminalisiert und unter strenge Strafe gestellt. Ihre Scharia-Gerichte wurden eingeführt. Die Blasphemie-Gesetze, die ironischerweise Hasspredigern Einhalt gebieten sollten, wurden nun einem strengen Diktat untergeordnet, welches durch eben jene Gesetze eine Mehrheit gefügig macht, Bürger diskriminiert, Menschen in Angst und Schrecken versetzt, mehrheitlich davon Muslime, zum Tod an alle anders denkenden Muslimen, Christen, Atheisten und so weiter aufruft, da sie keine (wahren) Muslime sind und den Tod der Christin Asia Bibi fordert. Und als Krönung der ganzen Tragödie, die auf die gesamte muslimische Welt abfärbt, versagt das justiziable System in Pakistan, und die Regierung lässt sich erpressen.

Warum? Weil die Menschen Angst haben. Sie haben Angst vor einer gewaltbereiten, militanten und äußerst aggressiven wahhabitisch–salafistisch geprägten Bewegung, die im Afghanistan–Krieg der 1980er Jahre nützlich war und durch den Westen wie auch Saudi-Arabien gleichermaßen gefördert wurde. Und aller Wahrscheinlichkeit nach wird sie immer noch gefördert - durch private Geldströme aus dem saudischen Königreich, dessen religiöse Auslegung des Islams der des sogenannten „Islamischen Staates“ und der „Deobandi–Bewegung“ nicht unähnlich ist.

Was ist die Lösung? Wie kann man die Dominanz einer Minorität durchbrechen?

Indem man sich gegen sie stellt und nicht auf ihre Forderungen eingeht. Indem man seitens muslimischer Institutionen, angefangen in Saudi-Arabien, von Kairo bis nach Qom, aufsteht und sich in aller Deutlichkeit gegen die stellt, die gerade unter Muslimen Angst und Schrecken verbreiten und in dem man sich demonstrativ, unter den Augen der weltweiten Öffentlichkeit, sich für eine Christin einsetzt, die für eine Machtdemonstration über die Deutungshoheit des Islams missbraucht wird und Leid erfährt.

Ihr Leid ist auch das Leid der Bürger in Pakistan und weltweit derer, die muslimischen Glaubens sind und genug von der Unterdrückung durch die Fanatiker in der eigenen Religion haben, die sich aber dennoch nicht trauen, endlich eine Bewegung loszutreten, die den Gedanken der Freiheit im Islam aufgreift und daraus einer Weltanschauung macht, in der jeder frei und ohne Zwang glauben kann, was er will oder nicht will.

Das Überleben Asia Bibis in einem freien Pakistan ist gleichzusetzen mit der Befreiung aller Muslime, die sich von den Fesseln extremistischer Auslegungen losgelöst in einem selbstbestimmten Leben sehen möchten. Und das sind nicht wenige.

Dieses Recht steht ihnen, wie allen anderen Menschen weltweit, verbrieft durch die universellen Menschenrechte, zu.

Dieses Recht steht auch Asia Bibi zu!


Simon JacobSimon Jacob ist Buchautor, Politikberater und Vorsitzender des „Zentralrats Orientalischer Christen in Deutschland e.V. – ZOCD“. Im Rahmen des von ihm initiierten Projektes Peacemaker-Tour war er 2015/2016 als Friedensbotschafter des Zentralrats und freier Journalist im Nahen Osten unterwegs. In gut fünf Monaten legte Simon Jacob rund 40.000 km zurück und besuchte neben der Türkei, Georgien, Armenien und Iran auch die Krisengebiete in Nordsyrien und Nordirak. Seine Beobachtungen und Erfahrungen dokumentierte er in seinem Buch "Peacemaker - Mein Krieg. Mein Friede. Unsere Zukunft.", das im April 2018 im Herder Verlag erschienen ist.


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simon.jacob@oannes-consulting.com Wed, 21 Nov 2018 16:57:04 +0100
Die Aktivitäten von Ayatollah Alavi Borujerdi und die Annäherung zwischen Sunniten und Schiiten https://www.multiperspektivisch.de/nachricht/detail/53.html Die Rolle und Funktion der Geistlichkeit in Iran wird in allen wissenschaftlichen und politischen... Die Rolle und Funktion der Geistlichkeit in Iran wird in allen wissenschaftlichen und politischen Diskursen unserer Gesellschaft diskutiert. Was wir oft dabei beobachten, sind Haltungen, die mit Vorurteilen und Stereotypen arbeiten. Was die schiitische Geistlichkeit in Iran ist, möchte ich hier aber nicht eingehend diskutieren, stattdessen konzentriere ich meine Aufmerksamkeit auf das dialogische Anliegen von Ayatollah Seyyed Mohammad Javad Alavi Boroujerdi (geb. 1954) im Hinblick auf das Verhältnis zwischen dem sunnitischen und schiitischen Islam.

Gewiss hat in der Geschichte des Islam die schiitische Geistlichkeit einen großen Einfluss ausgeübt - und zwar nicht nur auf islamische Theologie, Philosophie und Rechtswissenschaften, sondern sie hat auch zahlreiche andere Gebiete mit geformt. Diese Erkenntnis, die in der islamischen Welt ein Allgemeinplatz ist, kann in den westlichen Gesellschaften nicht genug hervorgehoben werden, weil wir Menschen aufgrund der Umstände der Zeit gerne die Errungenschaften anderer Kulturen kleinreden oder geradezu übersehen. Die schiitisch-iranische Geistlichkeit ist von Mannigfaltigkeit geprägt. Es ist zu beobachten, dass im Westen das negative, im Hinblick auf politische Weltereignisse dargestellte Bild nur eine angenommene Seite der Geistlichkeit repräsentiert.

Darüber hinaus wird bei der Darstellung von politischen Konflikten im Nahen Osten häufig betont, dass es sich angeblich um religiöse Rivalitäten zwischen den Konfessionen der Sunniten und Schiiten handeln würde. Die Realität - jenseits aller journalistischen Oberflächlichkeit und Fake-News - spricht hingegen eine völlig andere Sprache. Die schiitisch-iranische Geistlichkeit hat bereits vor der Islamischen Revolution im Jahr 1979 einen breiten Diskurs mit Sunniten entfaltet, der bis in unsere Tage hinein vertieft worden ist. Dabei werden die vielen Gemeinsamkeiten und die wenigen Differenzen, die politischer Natur sind, sensibel diskutiert.

Großayatollah Borujerdi als früher Vermittler zwischen Sunniten und Schiiten

Bahnbrechende Erfolge im Diskurs zwischen diesen Konfessionen erzielte bereits Großayatollah Seyyed Hussein Borujerdi (1875-1961), der Großvater von Ayatollah Alavi Borujerdi. In dem damaligen theologischen Zentrum des Schiitentums, in der religiösen Hochschule von Najaf im Irak, entwickelte sich Großayatollah Borujerdi als ein erfolgreicher Schüler von Akhund-e Khorasani (1839-1911). Lehrmeister Khorasani ist zum einen anerkannt aufgrund seines rechtswissenschaftlichen Nachschlagwerks (der Kifāya), das in den religiösen Hochschulen als Unterrichtsgrundlage verwendet wird, zum anderen gilt er als eine der Hauptfiguren in der iranischen Geistlichkeit, welche die Verfassungsrevolution (1905-1911) mit unterstützt haben. Großayatollah Borujerdi eröffnete einen Diskurs mit der sunnitischen Geistlichkeit, um eine Annäherung zwischen beiden Glaubensgemeinschaften zu initiieren. Ein Erfolg dieses dialogischen Diskurses ist die Anerkennung der schiitischen Rechtsschule durch den Großmufti von al-Azhar, Scheich Mahmud Schaltut (1893-1963).

 Die Kindheit und Jugend Ayatollah Borujerdis

Der Enkelsohn des Großayatollah Borujerdi, Ayatollah Alavi Borujerdi, ist in einer geistlich geprägten Familie aufgewachsen, sein Vater war ebenfalls Geistlicher.

Ayatollah Alavi Borujerdi besuchte zunächst eine staatliche Schule, dann das Gymnasium. Bereits in dieser frühen Zeit beschäftigte er sich mit der Lektüre religiöser Bücher und dem Erlernen der arabischen Sprache. Die Möglichkeit zur Teilnahme an theologischen Sitzungen vermittelte dem Jungen die Bekanntschaft mit religiösen Akademikern sowie mit Geistlichen, die sich aktiv gegen die Monarchie von Mohammad Reza Pahlavi engagierten. Dies bedeutete für den Jugendlichen die Einführung in die Gedankenwelt von sogenannten „Traditionalisten“ und „Modernisten“. Seine Überlegungen wurden im Lauf seines Lebens von Strömungen beider politischer Lager geprägt.

Nach dem Abitur nahm Ayatollah Alavi Borujerdi ein Jurastudium an der staatlichen Universität in Teheran auf. Obwohl er sehr gute Englischkenntnisse vorweisen konnte und einem Studium im Ausland nichts im Wege stand, zog er es vor, weiter in seinem Heimatland zu studieren. Nach einiger Zeit, in welcher der junge Alavi Borujerdi einen Wandel im Denken durchlebte, brach er dieses Studium ab und traf die Entscheidung, den Weg seines Vaters und seines Großvaters zu wählen. Er begab sich nach Qom, wo sich die wichtigste religiöse Hochschule für schiitische Theologie, Philosophie, Jurisprudenz, Koran- und Überlieferungswissenschaften befindet. In Ghom, wo er bis heute lebt und wirkt, setzte er sein Studium bis zum höchsten Grad des Ijhtihads, der Erlaubnis zur selbständigen Rechtsfindung des Rechtsgelehrten, fort.

Borujerdi und seine Bedeutung für die Annäherung zwischen Sunniten und Schiiten in der Gegenwart

Die Auseinandersetzung mit verschiedenen Denkrichtungen war für das Leben von Ayatollah Alavi Borujerdi prägend. Seine Überlegungen im Hinblick auf Theologie und Jurisprudenz, die er als Erbe seines Großvaters fortsetzte, bringt er auf dem Gebiet der Annäherung zwischen Sunniten und Schiiten mit Erfolg ein. Die Errungenschaften des Großvaters, nämlich das "Institut zur Annäherung zwischen islamischen Rechtsschulen" ist der Grundstein, auf dem Ayatollah Alavi Borujerdi aufbaut. Seiner Auffassung nach sind Sunniten und Schiiten durch zahlreiche Gemeinsamkeiten verbunden: für beide sind der Koran (das heilige Buch der Muslime und die wichtigsten Geistesquelle des Islams) und die Sunna (die prophetischen Überlieferungen) grundlegend. Im Hinblick auf religiöse Überzeugungen, die sowohl sunnitische als auch schiitische Gelehrten in ihren Werken erwähnen und worin sie auseinandergehen, wie die theologische und damit einhergehend die politische Nachfolge des Propheten, müssen beide nach einer neuen gemeinsamen hermeneutischen Betrachtung suchen.

Für Ayatollah Alavi Borujerdi ist es grundlegend, zwischen Sunniten und deren Rechtsschulen auf der einen Seite und Wahhabiten auf der anderen Seite eine klare Grenze zu ziehen, da der Wahhabismus dem Geist des Islam und dessen Lehren fremd sei. Anzumerken ist hier, dass der Wahhabismus weniger eine religiöse, sondern vielmehr eine politische Bewegung darstelle, die den Islam zu ihren Gunsten auslege und ausnutze. Ayatollah Alavi Borujerdi hält die Annäherung zwischen den islamischen Rechtsschulen in der Gegenwart für eminent bedeutsam, da jede Meinungsverschiedenheit zwischen Muslimen von extremistischen Gruppierungen ausgenutzt und besetzt werden könne.

Weitere Aktivitäten von Ayatollah Alavi Borujerdi

Neben seinen Verpflichtungen in Forschung und Lehre gründete Ayatollah Alavi Borujerdi das Institut "Großayatollah Seyed Hussain Borujerdi" in Qom. Er setzt sich zudem für die Restaurierung der großen Kuppel und der Minarette der Azam-Moschee in Qom ein, die von seinem Großvater gebaut worden ist. In Zentralasien, in der Türkei und im Kaukasus werden mit seiner Hilfe religiöse Werke für Schiiten veröffentlicht.

Es bleibt zu hoffen, dass die Maxime von Großayatollah Borujerdi, der sich mit Leib und Seele für den innerislamischen Dialog eingesetzt hat, heute durch dessen Enkel, der in Iran eine große Anerkennung genießt, fortgesetzt werden möge.


Dr. phil. Sedigheh Mousavi Dr. phil. Sedigheh Mousavi Khansari arbeitet an der Philosophischen Fakultät "Orient- und Islamwissenschaft" der Eberhard Karls Universität Tübingen und ist die Autorin des Buchs "Molla Sadras Handlungstheorie im historischen Kontext". Ihre Forschungsgebiete sind unter anderem die Schiitische Philosophie vom 13. bis ins 17. Jahrhundert, Handlungstheorie und die Geschichte der Safawiden.


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sedigheh.mousavi@aoi.uni-tuebingen.de Fri, 09 Nov 2018 12:14:16 +0100
Trotz Neutralitätsgebot: Religion wird von Staat bewertet und beeinflusst https://www.multiperspektivisch.de/nachricht/detail/52.html Aleviten, Ahmadis und Millî Görüş: Wer ist „richtiger“ Moslem? Auch wenn dies für viele eine... Aleviten, Ahmadis und Millî Görüş: Wer ist „richtiger“ Moslem? Auch wenn dies für viele eine wichtige Frage ist, so muss sie für den Staat irrelevant sein. Der Staat muss die Beantwortung letzter Fragen seinen Bürgern überlassen und darf keine Position zum Wahrheitsanspruch von Religionen und religiösen Personen beziehen. Darüber hinaus muss jeder Einzelne seine Religion oder Nichtreligion privat und öffentlich so leben können, wie er es für richtig hält. Das schließt öffentliche Diskussionen über Religion und Religionszugehörigkeiten nicht aus. Aber der Staat darf die Grenzen von Religionszugehörigkeiten nicht definieren, das dürfen nur die religiösen Gemeinschaften selbst.

Das ist das Ideal der Offenen Religionspolitik. Verwirklicht ist es nur in sehr wenigen Staaten der Welt. Auch dem deutschen Staat ist religiös-weltanschauliche Neutralität vom Grundgesetz aufgegeben und dennoch wertet und beeinflusst er Religion. Das Problem ist dabei nicht, dass der Staat religiöse und weltanschauliche Gemeinschaften fördert. So ermöglicht der deutsche Staat Religionsunterricht an öffentlichen Schulen, den Einzug der Kirchensteuer, Theologie an staatlichen Universitäten, die Finanzierung religiöser Wohlfahrt und vieles mehr. Das Problem ist, dass die Förderung selektiv erfolgt und dadurch einzelne Gruppen gegenüber anderen gestärkt werden.

Desinteresse der Politik

Das Höchstmaß an staatlicher Förderung erreichen die römisch-katholische Kirche, die evangelischen Landeskirchen und der Zentralrat der Juden in Deutschland. Der Staat kooperiert und unterstützt diese Gemeinschaften gern. Es ist für diese in der Regel kein Problem, Schulen und Krankenhäuser zu errichten und Religionsunterricht an öffentlichen Schulen zu erteilen. Essentiell ist für den Status dieser Gemeinschaften, dass ihre Lehren als glaubhaft, glaubwürdig und förderungswürdig gelten.

Dahinter zurück stehen Gemeinschaften, die zwar niemandem schaden, aber dennoch als weniger glaubhaft, glaubwürdig und förderungswürdig angesehen werden. Dazu gehört eine ganze Reihe christlicher Kirchen wie die Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage und die Neuapostolische Kirche, aber auch Gemeinschaften wie die Bahai, der Humanistische Verband, unitarische Christen und die Aleviten. Manchmal ist es die tatsächliche oder vermeintliche Fremdheit, die eine engere Kooperation mit dem Staat verhindert, manchmal sind es schlicht die fehlende Größe oder fehlende Strukturen, häufig schlicht Desinteresse seitens der Politik.

Ziel des Staates: „Moderater“ Islam

Erstaunlich groß ist das politische Interesse bei denjenigen Gemeinschaften, die als gefährlich eingestuft werden. Dies betrifft heutzutage insbesondere die drei Millionen Muslime in Deutschland, darunter mehr als eine Million Deutsche. Ausgrenzung (allein) halten viele Politiker gegenüber Muslimen für die falsche Strategie. Stattdessen müsse der Islam integriert, zivilisiert und demokratisiert werden. Entsprechend werden große staatliche Programme aufgesetzt, um einen „moderateren“ Islam hervorzubringen.

Um eines ganz klar zu sagen: Der deutsche Staat verfolgt keine Minderheiten. Aber er schafft Anreizstrukturen, mit deren Hilfe sich einzelne Gemeinschaften und einzelne Strömungen in Religionen besser behaupten können als andere. Diese Lenkungswirkung kann die Gemeinschaften vor ungewollte – und in meinen Augen unnötige – Probleme stellen.

Beispiel: Die Aleviten

Deutlich wird das am Beispiel der Aleviten. Während sie im Osmanischen Reich als Häretiker verfolgt wurden, sind sie in der Türkei einem Sunnitisierungsdruck ausgesetzt. Wenig überraschend ist daher, dass die Auffassungen unter Aleviten weit auseinandergehen, ob sie Muslime sind oder nicht. In diese inneralevitische Diskussion hinein wirken nun die Anreizstrukturen des deutschen Staates. Die bis in die Politik verbreitete Islamophobie macht es für Aleviten attraktiv, sich nicht als Muslime zu verstehen. Durch die Betonung des eigenen humanistischen Erbes kann es gelingen, sich als die „guten Einwanderer“ aus der Türkei zu präsentieren – im Gegensatz zu den muslimischen – was dann von der Politik honoriert wird.

Andererseits investiert der deutsche Staat große Mittel in die „Integration“ des Islam und eben nicht in die Gleichberechtigung aller Religionen und Weltanschauungen. Für Aleviten und ihre Verbände stellt sich daher die Frage, ob sie auf der Seite der Muslime stehen und von Förderprogrammen profitieren wollen oder ob sie auf der Seite der anderen kleineren Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften stehen wollen, die viel weniger von staatlicher Förderung profitieren. Wer zum Beispiel intensiv mit dem Staat über die Förderung von Religionsunterricht, Theologie und Wohlfahrt sprechen will, sollte tunlichst Mitglied der Deutschen Islam Konferenz sein. Entsprechend sind die Aleviten Mitglied der Deutschen Islam Konferenz – trotz der eigenen Zweifel an der Zugehörigkeit zum Islam. Es gibt schlicht keine bessere religionspolitische Plattform.

Gleichberechtigung statt Integration

In meinen Augen hat die Frage, ob Aleviten Muslime sind oder nicht, eine viel zu hohe politische Bedeutung. Der deutsche Staat sollte sich befreien von der „Integration“ der Muslime und stattdessen an der Gleichberechtigung aller Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften arbeiten. Die Ausweitung der Deutschen Islam Konferenz in eine Deutsche Konferenz für Religion und Weltanschauung (DKRW) wäre dafür ein wichtiger Schritt. Bei der DKRW könnten alle Gemeinschaften mit dem Staat diskutieren, wie sie die Kooperation mit diesem verbessern können – ohne dass irgendjemand ein Bekenntnis für oder gegen den Islam (oder beides zugleich) abgeben müsste. Durch die DKRW würden auch endlich säkulare Humanisten, Mormonen, Bahai und viele andere einbezogen werden. Bislang ist das Forum Offene Religionspolitik die einzige Institution die eine Deutsche Konferenz für Religion und Weltanschauung fordert, aber wir bemühen uns um Mitstreiter.

Für einen derartigen Kurs der konsequenten Öffnung, eine Offene Religionspolitik werbe ich weltweit – alle religiösen und nichtreligiösen Minderheiten betreffend. Offene Religionspolitik respektiert die Religiosität des Einzelnen. Ihr sind sowohl staatliche Missionierung als auch staatliche Säkularisierung verwehrt. Sie lässt die Antwort auf letzte Fragen offen und gibt keine Wahrheiten vor. Die Entscheidung für oder gegen eine Religion überlässt eine offene Religionspolitik dem einzelnen Bürger.

Kopftuchverbot macht Bürgerinnen zu Fremden im eigenen Land

Offen muss der Staat auch für das gelebte Bekenntnis seiner Bürger sein. Zwar ist Religion Privatsache, aber dennoch hat jeder Bürger das Recht, seine Religion oder Weltanschauung in das öffentliche Leben einzubringen. In der geschlossenen Religionspolitik hingegen kann nicht jeder Bürger sein religiöses oder weltanschauliches Bekenntnis öffentlich leben. Ein Beispiel dafür ist das so genannte Kopftuchverbot: Einige Bundesländer untersagen muslimischen Lehrerinnen, ihre Religiosität mit einem Kopftuch auszudrücken. Das gleiche galt für Frauen an türkischen Universitäten. Durch ein derartiges Verbot macht der Staat Bürgerinnen zu Fremden im eigenen Land.

Konflikte sind bei der aus der Offenheit hervorgehenden oder sichtbar werdenden Vielfalt vorprogrammiert. Aber wenn wir in einer religiös-weltanschaulich vielfältigen Gesellschaft friedlich leben wollen, müssen wir uns auf die Andersartigkeit des Anderen einlassen. Wir müssen uns von der Vorstellung verabschieden, die Bürger eines Landes alle gleich machen zu können (und das damit irgendetwas gewonnen wäre). Das gleiche gilt für die Vorstellung, alle Anhänger einer Religion oder Tradition in einem Land gleich machen zu können. Wir müssen lernen, für die Vielfalt offen zu sein.

Staat hat Ziel einer einzigen Organisation aufgegeben

In Deutschland hat die Politik endlich das Ziel aufgegeben, alle Muslime in einer einzigen Organisation zusammenfassen zu wollen. Ausdruck dafür ist die Anerkennung der Ahmadiyya Muslim Jamaat als Körperschaft des öffentlichen Rechts und der Einrichtung von Religionsunterricht für Ahmadis. Auch die DITIB steht kurz vor einer derartigen Anerkennung. Die gleiche organisatorische Vielfalt muss auch im Alevitentum möglich sein und vom Staat anerkannt werden. Es darf für den Staat keine Rolle spielen, ob sich Aleviten als Muslime verstehen oder nicht – oder ob sie sich nicht festlegen. Der Staat sollte mit allen Gemeinschaften ganz gleich welcher Ausrichtung freundschaftlich kooperieren. Das gilt nicht nur für die alevitische Gemeinschaften, sondern auch für (andere) muslimische Gemeinschaften, christliche Kirchen, humanistische Organisationen usw. Und das gilt für Deutschland wie für die Türkei wie für jedes andere Land der Welt.


Mit freundlicher Genehmigung von IslamiQ.


Sven SpeerDr. phil. Sven Speer ist Vorsitzender des Forums Offene Religionspolitik (FOR) seit dessen Gründung 2011. Als Mitarbeiter und im Rahmen von Vorträgen und Gutachten berät er Regierungsorganisationen, Abgeordnete, Religionsgemeinschaften und Verbände zum Verhältnis von Staat und Religion – u.a. in Berlin, Jerusalem, Beirut, Kairo, Washington D.C., Houston und Salt Lake City. Speer hat Politikwissenschaft und Geschichte studiert und am Exzellenzcluster ‚Religion und Politik‘, am German Marshall Fund of the United States und am Institut für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien zur politischen Regulierung von Religion geforscht.


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sven.speer@offene-religionspolitik.de Thu, 01 Nov 2018 10:53:14 +0100
Theologisierung von Problemen und ihre Auswirkungen auf Muslime und Nicht-Muslime https://www.multiperspektivisch.de/nachricht/detail/51.html Der Sozialwissenschaftler Murat Gümüş ist Generalsekretär des Islamrates für die Bundesrepublik... Der Sozialwissenschaftler Murat Gümüş ist Generalsekretär des Islamrates für die Bundesrepublik Deutschland und stellvertretender Generalsekretär der Islamischen Gemeinschaft Millî Görüş (IGMG). Er war davor in der Jugendorganisation der IGMG und zuletzt in ihrer Studierendenabteilung aktiv. Das Interview führte Ali Mete von IslamiQ.

IslamiQ: Es wird öfter über „Islamismus“, „Dschihadismus“ und „Salafismus“ gesprochen als über den Islam, Dschihad und über die Salaf. Teilen Sie diese Einschätzung? Welche Gründe hat das Ihrer Meinung nach?

Murat Gümüş: Der 11. September, andere Anschläge auch auf europäischem Boden und die zunehmende Radikalisierung allgemein haben zu zwei getrennten Diskursräumen geführt.

Der erste und dominierende Diskursraum ist der weite öffentliche Raum, die politische und mediale Ebene. In ihm gehören die Begrifflichkeiten „Islamismus“, „Dschihadismus“ und „Salafismus“ zum Standardrepertoire der Erklärungsversuche von Radikalisierungserscheinungen. Überraschend ist, dass dieser von unterschiedlichen, ja gegensätzlichen Akteuren geteilt wird: die Minderheit derjenigen Muslime, die den Islam auf eine Ideologie reduzieren einerseits und die „Islamkritiker“ andererseits. Beide Seiten etablieren und reproduzieren bestimmte Begriffe und deren Deutungen. Unter Dschihad/„Dschihadismus“ oder Islam/„Islamismus“ verstehen beide Seiten in etwa das Gleiche. In der Auslegungsmethodik der Primärquellen des Islams unterscheiden sie sich nicht wesentlich, beide haben Zugang zu diversen modernen Kommunikationsmitteln und können sich dementsprechend gut platzieren.

Der zweite Diskursraum beinhaltet die gelebte muslimische Praxis der überwältigenden Mehrheit der Muslime. Dort geht es nicht um die Frage, ob der Islam Gewalt befürwortet. Diese Frage ist in der gelebten Praxis bereits geklärt. Hier geht es vielmehr um eine gottgefällige Lebensführung im Alltag. Im Raum stehen praktische Fragen wie Halal-Lebensmittel, Zinsen beim Erwerb von Immobilien oder Organtransplantationen. Den Muslimen geht es um die gleichberechtigte Teilhabe im öffentlichen Raum – sozial, kulturell, intellektuell. Also auch ihre Existenz und Sichtbarkeit als Muslime. Das ist, was sie unter gelebtem Islam oder Dschihad auch verstehen. Vor diesem Hintergrund ist es verständlich, dass Muslime irritiert sind, wenn sie immer wieder gefragt werden, wie sie diese und jene extremistische Gruppen einschätzen. Denn für sie lässt sich Extremismus islamisch nicht legitimieren.

IslamiQ: In öffentlichen Debatten werden Ismen gerne zur Abgrenzung verwendet: Nicht der Islam sei gefährlich, sondern der „Islamismus“. Nicht der Bezug zur Salaf sei gefährlich, sondern der „Salafismus“. Solche Unterscheidungsbestregungen sind zwar verständlich, führen aber nur selten zu einer ausreichenden Differenzierung in der Wahrnehmung. Wie sehen Sie das?

Murat Gümüş: Das ist in der Tat ein großes Problem. Auf der einen Seite existiert der nachvollziehbare Bedarf nach Erklärung und Benennung. Auf der anderen Seite stößt man bei solchen Versuchen auf seine Grenzen, wenn sie über den eigentlich fokussierten und klar abzugrenzenden Forschungsgegenstand hinaus noch andere Subjekte miterfassen.

Aufgrund des aktuellen Kontextes erleben wir das Problem bei den Begriffen „Islamismus“, „Salafismus“ und „Dschihadismus“. Die Begriffe Islam, Salaf und Dschihad sind für Muslime zentral und durchweg positiv konnotiert; sie sind konstitutiv für ihre Selbstdefinition. Durch das Suffix „ismus“ wird etwas ursprünglich Positives zu etwas grundsätzlich Negativem, „Bösem“. Wenn selbst Behörden hier manchmal nicht klar unterscheiden können, kann man eine Differenzierung auch von der Gesellschaft nicht erwarten. Hier muss etwas geschehen, es muss zu einem Umdenken kommen.

Die islamischen Religionsgemeinschaften versuchen bei jeder Gelegenheit hierauf aufmerksam zu machen und ein Umdenken anzustoßen. Die Politik zeigt zum Teil auch eine gewisse Bereitschaft, gemeinsam nach Alternativen zu suchen. Sie erkennen das Problem mittlerweile auch. Jedoch wird diese Sorge dem Anschein nach leider nicht von allen relevanten Akteuren getragen. Akademiker an den islamisch-theologischen Instituten müssen sich der Sorge der Muslime über die Zweckentfremdung islamisch-theologischer Begrifflichkeiten wie im Fall „Dschihadismus“, durch wen auch immer, stärker annehmen. Momentan ist es leider eher so, dass sie – sicherlich ungewollt – bei Tagungen oder Projekten diese Begriffe und Deutungen reproduzieren und verfestigen.

IslamiQ: Das Problem ist also ein sprachliches und kein theologisches.

Murat Gümüş: Ja, aber mit gravierenden Folgen für die islamische Theologie. Denn durch die Verwendung theologischer Begriffe zur Kennzeichnung von problematischen Phänomenen wird auch das Problem selbst theologisiert. Viele Studien und Interviews mit Rückkehrern aus Syrien haben ergeben, dass diese Menschen über wenig bis kaum islamisch-theologisches Grundwissen verfügen. Vielmehr entsteht ein diffuses Bild alternierender, vielfältiger, potenzieller Ursachen, die sich zum erheblichen Teil auch aus unterschiedlichen Lebenssituationen ergeben, die mit ausschlaggebend für ihre Radikalisierung gewesen ist. Die Hinwendung zu problematischen und von der überwältigenden Mehrheit der Muslime abgelehnten Auslegungen islamischer Quellen ist dann häufig nicht der Auslöser der Radikalisierung, sondern das Ergebnis der Verquickung von hauptsächlich sozialen oder psychologischen Faktoren. Dies wird durch die Verwendung der Begriffe „Islamismus“, „Dschihadismus“ und „Salafismus“ häufig übermalt.

IslamiQ: Muslime werden aufgefordert, die Deutungshoheit über ihre Begriffe, die sie an extremistische Gruppen verloren zu haben scheinen, wiederzuerlangen. Wann und warum haben sie diese Ihrer Einschätzung nach verloren?

Murat Gümüş: Die traditionellen Orte des Wissenserwerbs über die islamische Theologie waren lange Zeit islamische Bildungseinrichtungen wie Madrasas, Stiftungen, Moscheen und – wenn es um die Religionspraxis geht – die Familie oder Gesprächskreise. Das Internet ist in den letzten Jahren als neue Quelle hinzugekommen. Während bei den Ersteren eine systematische Einordnung der Quellen und der Zugang zu ihnen von einem Gelehrten oder nachweislich Fachkundigen beigebracht wurde bzw. wird, fehlt diese Instanz im Internet. Hier ist jeder sein eigener Herr. Das Internet bietet eine unüberschaubare und nur schwer überprüfbare Palette an Angeboten über die islamische Theologie. Hier ist man gänzlich auf sich selbst und dem bis dahin erworbenen oder nicht erworbenen Fachwissen überlassen. Wie bei allem anderen auch kann das Internet als Wissensquelle für den Kenner ein Segen sein, für den Laien hingegen ein Fluch.

Vor diesem Hintergrund kann kaum von einem Verlust der Deutungshoheit gesprochen werden. Denn zum einen werden spätestens seit dem 11. September im internationalen Kontext fast schon jährlich theologische Positionierungen vorgenommen. Auf der anderen Seite haben die islamischen Religionsgemeinschaften in Deutschland schon vor Jahren begonnen, dieses Thema auf ihre Agenda zu nehmen und dazu Positionierungen zu veröffentlichen. Die Islamische Gemeinschaft Millî Görüş (IGMG) hat in ihren jährlichen Panels und Publikationen das Thema der problematischen Auslegung islamischer Quellen mehrfach aufgegriffen. DITIB hat zu diesem Thema eine ausführliche Stellungnahme veröffentlicht.

Ich denke, dass die Deutungshoheit auf lange Sicht nicht wesentlich gefährdet sein wird, auch wenn man diese Entwicklungen ernst nehmen muss. Es wäre aber verkehrt zu erwarten, dass es ausreichend sein könnte, wenn islamische Religionsgemeinschaften ihre Inhalte stärker im Internet platzieren. Das Internet kann – sinnvoll genutzt – nur eine ergänzende Funktion beim Wissenserwerb über den Islam einnehmen. Die eigentlichen und authentischen Institutionen und Instanzen beim Wissenserwerb waren, sind und werden weiterhin die traditionellen Orte wie Moscheegemeinden, Bildungseinrichtungen und das Zuhause sein. Hier müssen wir und sind wir aus einem islamischen Bewusstsein heraus bestrebt, mehr Menschen zu erreichen.

IslamiQ: Muslime müssen mit der Spannung zwischen ihrem Glauben und den Folgen der Taten Einzelner leben. Wie wird sich Ihrer Meinung nach die belastende Atmosphäre in Deutschland auf die muslimische Jugend auswirken?

Murat Gümüş: Es wird sehr viel über den Islam gesprochen und diskutiert. Im europäischen Kontext ist das nichts Neues. Mit ähnlichen Herausforderungen sahen und sehen sich auch Christen konfrontiert. Jedoch sind Muslime in Europa eine Minderheit – eine von immer mehr Menschen weniger akzeptierte Minderheit. Minderheiten, egal ob religiöse oder ethnische, sehen sich stets vor der Situation, sich erklären zu müssen. Gerade vor dem Hintergrund terroristischer Anschläge – angeblich im Namen des Islams – sehen sich Muslime unter einer Doppelbelastung: sich aufgrund ihrer Minderheitsposition erklären zu müssen und unter Beweis stellen zu müssen, dass man eine andere Überzeugung vom Islam hat als die Terroristen. Insbesondere junge Muslime und hier vor allem kopftuchtragende Musliminnen sind dieser Situation besonders stark ausgesetzt.

Unter dem ständigen Rechtfertigungsdruck wird der Islam für Muslime nicht selten zu einem Sammelsurium von apologetischen Argumenten – und keine Religion, die man einfach lebt. Die Religion wird zu einem Kasten von Argumenten, aus dem man sich je nach Bedarf bedienen kann. Darunter leidet das Verhältnis zur Religion.

Oft lässt sich auch eine Trotzreaktion beobachten. Jugendliche, die sich auch aufgrund ihrer Religion nicht aufgenommen und akzeptiert fühlen, können mit der Zeit neben der bestehenden Barriere weitere eigene Barrieren aufbauen. Das kann in Extremfällen zur Abkapselung von der Gesellschaft führen. Uns werden aus unseren Gemeinden immer häufiger Fälle herangetragen, in denen Kinder in der Schule von LehrerInnen skeptisch und verdächtig beäugt werden oder LehrerInnen im Unterricht abschätzige Bemerkungen über den Islam machen. Solche Fälle werden jedoch leider weitestgehend tabuisiert. Kritik an solch einem Verhalten verhallt. Ich möchte nicht alle LehrerInnen über einen Kamm scheren, denn wir kennen auch sehr viele positive Beispiele. Aber die Problemfälle finden kaum Beachtung im öffentlichen Diskurs.

IslamiQ: Die entscheidende Frage: Gibt es alternative Begriffe und Ansätze?

Murat Gümüş: Es ist einfacher, Kritik an Begriffen wie „Dschihadismus“, „Salafismus“ oder „Islamismus“ zu üben als nach alternativen Begrifflichkeiten zu suchen. Wie bereits erwähnt, belegen Studien zu Rückkehrern oder zum Klientel in Deradikalisierungsstellen, dass es sich bei diesen Personen um theologische Analphabeten handelt. Ich möchte damit keineswegs sagen, dass dieses Phänomen nichts mit dem Islam zu tun hat, sondern versuchen einzuordnen, welche Rolle die Religion hier spielt. Denn immerhin rekurrieren extremistischen Organisationen in ihrer Argumentation, Sprache und Symbolik auch auf den Islam als Referenz. Das kann nicht ausgeblendet werden. Auch kann nicht ausgeblendet werden, dass sie des Islams instrumentell bedienen. Vor diesem Hintergrund sollte statt von „Salafismus“, „Dschihadismus“ oder „Islamismus“ eher vom „den Islam instrumentalisierendem Extremismus “ gesprochen werden.

Außerdem ist es fahrlässig, eine jahrhundertealte islamische Bedeutungsgeschichte, die z. B. hinter dem Begriff Salaf oder Dschihad steht, für gewaltbereite Strömungen zu entfremden, um so einen schnellen Referenzrahmen für Rezipienten zu bieten. Die Beschreibung „den Islam instrumentalisierender Extremismus“ ist eine faktisch korrekte Begrifflichkeit, weil sie den Referenzrahmen umfassend und zutreffend berücksichtigt. Dieser soll keineswegs dazu dienen, eine neue Definition von zu formulieren. Er umfasst auch weiterhin nur die Personengruppen oder Phänomene, die versuchen, das Grundgesetz zielgerichtet aktiv kämpferisch zu beseitigen.

Mit freundlicher Genehmigung von IslamiQ.

Ali Mete ist Chefredakteur von IslamiQ und Geschäftsführer des PLURAL Verlags.


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a.mete@islamiq.de Tue, 30 Oct 2018 19:21:48 +0100
Ukraine: Mafia statt Euromaidan https://www.multiperspektivisch.de/nachricht/detail/50.html Vor rund sieben Jahren logierte ich einige Nächte in einem Hotel der ukrainischen Hauptstadt Kiew.... Vor rund sieben Jahren logierte ich einige Nächte in einem Hotel der ukrainischen Hauptstadt Kiew. Die ukrainische Hauptstadt - historisch die Mutter aller russischen Städte - bot dem Besucher in diesem Frühjahr 2011 sehr unterschiedliche Impressionen.

Auf dem Maidan waren die Orangen schon verschimmelt, nach denen die "Revolution" von 2004/2005 - eher sollte man von einem kurzlebigen Umsturzversuch sprechen - benannt worden war. Denn die politischen Führer von damals, allen voran der im Westen gefeierte Präsident Wiktor Andrijowytsch Juschtschenko, waren durch die Wahlen 2010 längst wieder von der Macht verdrängt worden. Und der gewählte neue, eher pro-russische Präsident Wiktor Fedorowytsch Janukowytsch sollte selbst einige Jahre später, im Februar 2014, durch einen abermals pro-westlichen Regime-Change seine Macht verlieren, nachdem er das angestrebte Assoziierungsabkommen mit der EU aussetzen ließ.

Gegen Abend setzte ich mich gerne an die Bar, um dabei mein Umfeld zu beobachten. In der Hotellobby lungerten Sicherheitsbeamte - schlecht getarnt als Geschäftsleute - neben grell geschminkten Huren, die dort nach Einbruch der Dunkelheit auf ihre potentiellen Kunden warteten und dabei ihre weiblichen Reize demonstrativ zur Schau stellten, herum. Merkwürdige Männer undefinierbarer Nationalität, die sich in exotischen Idiomen verständigten, tuschelten mit zusammengesteckten Köpfen. Die Atmosphäre war von einer beklemmenden Spannung geprägt.

"Sie sollten jetzt lieber gehen", raunte mir der Barkeeper zu, als zwei „Stiernacken“ neben mir Platz genommen hatten. "Das sind Angehörige der Mafia, der ukrainischen Mafia", fügte er leise - kaum hörbar - hinzu. Während ich meinen Drink leerte, musterte ich noch einmal die anwesenden Gäste. Ob an diesem Ort wirklich lukrative Geschäfte getätigt wurden, wagte ich zu bezweifeln. Dafür waren die Visagen doch zu grob, die Verhaltensweisen zu schmierig. Trotzdem nahm ich den Rat des Barkeepers an und begab mich auf mein Zimmer.

In jenen Tagen wurde in Kiew bei Gesprächen, die um den Einfluss der organisierten Kriminalität kreisten, regelmäßig der Namen eines Mannes genannt, der an der Schnittstelle zwischen Politik und Mafia als eine Art Pate angesehen wurde - ein gewisser Oleksandr Romanowytsch Onyschtschenko.

Heute, sieben Jahre später, vier Jahre nach dem Machtwechsel in Kiew - flankiert von dem neuen Kalten Krieg zwischen dem Westen und Moskau - ist Oleksandr Onyschtschenko wieder ins öffentliche Rampenlicht zurückgekehrt.

Onyschtschenko, zwischen 2014 und 2016 einer der engsten Mitarbeiter des amtierenden ukrainischen Präsidenten Petro Oleksijowytsch Poroschenko, lebt heute im Exil in den USA. Anfang des Jahres erschien seine literarische Abrechnung mit seinem Ex-Vorgesetzten in Form eines Tatsachenromans, der - wenn die Berichte nur ansatzweise der Wahrheit entsprechen - einem das Blut in den Adern gefrieren lassen.

"Peter der Fünfte: Die wahre Geschichte des ukrainischen Diktators" heißt das Werk, in dem Onyschtschenko beschreibt, wie er im Auftrage Poroschenkos Abgeordnete bestechen ließ, um Mehrheiten im Parlament zu erlangen und wie er bei Oligarchen um Geld bettelte und dieses beiseite schaffte. In jenen zwei Jahren an der Seite des Präsidenten wurden die Oligarchen immer reicher, während die Bevölkerung weiter verarmte.

Bürgerkrieg, Wirtschaftskrise, bewaffneten Neonazis und Korruption sind das Kennzeichen der Amtszeit jenes Mannes, den Onyschtschenko heute "Diktator" nennt und der im Westen lange als demokratischer Hoffnungsträger gehandelt wurde. Würde Poroschenko von den Machthabern in den Vereinigten Staaten von Amerika (USA) und der Europäischen Union (EU) nicht gestützt, wäre dieses Regime schon längst bankrott, der Präsident und seine Clique erledigt - so schreibt er es wütend in seiner Abrechnung.

Die Antwort aus Kiew ließ nicht lange auf sich warten. Präsident Poroschenko erklärte Onyschtschenko zum Staatsfeind Nr. 1 - nur dumm, dass dieser in den USA lebt, dem großen Bruder des Kiewer Regimes.

Der Staatsfeind hat unterdessen angekündigt, für die Wahlen im nächsten Jahr kandidieren zu wollen, während im Westen niemand mehr die ukrainische Regierung als demokratische Alternative zu loben wagt. Der 2014 großspurig verkündete Weg in die EU, welchen man der Ukraine allen Ernstes zu ebnen gedachte, scheint inzwischen verschlossen. Die Ukrainer verlassen ihr Land in immer größeren Ausmaßen.

Ob es sich bei Onyschtschenko um einen geläuterten Ex-Mafiosi handelt, darf bezweifelt werden. Spannend ist allerdings, wie man im Westen mit der Konstellation umzugehen gedenkt. Soll Onyschtschenko die Rolle eines ukrainischen Fethullah Gülen spielen?

Sicher ist auf jeden Fall, dass der Westen nicht nur im Nahen Osten auf korrupte und menschenverachtende Regime setzt und diese aufrüstet sowie unterstützt, sondern auch in Osteuropa - vor der eigenen Haustür. Man fragt sich, welche Werte wir eigentlich noch zu verkörpern gedenken. Auf jeden Fall nicht jene, die wir propagieren.

In diesen Wochen, wo in Norwegen - unmittelbar an der russischen Grenze - ein weiteres NATO-Großmanöver am stattfinden ist und unsere Bundeskanzlerin morgen auf Staatsbesuch in der Ukraine sein wird, darf auf diesen Skandal hingewiesen werden.


Ramon SchackRamon Schack (geb. 1971) ist Diplom-Politologe, Journalist und Publizist. Er schreibt für die „Neue Zürcher Zeitung“, „Zeit Online“, „Deutschland-Radio-Kultur“, „Telepolis“, „Die Welt“ und viele andere namhafte Publikationen. Ende 2015 wurde sein BuchBegegnungen mit Peter Scholl-Latour – ein persönliches Porträt von Ramon Schack" veröffentlicht, eine Erinnerung an geteilte Erlebnisse und einen persönlichen Austausch mit dem berühmten Welterklärer.


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ramon_schack@yahoo.de Tue, 30 Oct 2018 16:29:51 +0100
Fukuyamas Identitätsfrage und was die Gesellschaft noch zusammenhält https://www.multiperspektivisch.de/nachricht/detail/49.html Im Sommer 1989 erschien in der Fachzeitschrift "The National Interest" ein Beitrag des im... Im Sommer 1989 erschien in der Fachzeitschrift "The National Interest" ein Beitrag des im US-Außenministerium arbeitenden Politikwissenschaftlers Yoshihiro Francis Fukuyama, der weltweit für großes Aufsehen sorgte und sich wie ein Flächenbrand verbreitete.

Der Zeitpunkt für die Thesen Fukuyamas war äußerst günstig gewählt, der Lauf der Weltpolitik jener Tage schien ihn zu bestätigen. "Das Ende der Geschichte" lautete der Titel dieses Essays, in welchem der Autor (, der zuvor bei der Pentagon-nahen Denkfabrik "RAND Corporation" tätig war,) das Debakel der sozialistischen Utopie - in diesem Fall in ihrer realsozialistischen sowjetischen Ausprägung - analysierte und zu dem Schluss kam, dass mit dem Erfolg der liberalen Ordnung die denkbaren ideologischen Alternativen zum westlichen System erschöpft seien und der evolutionäre Prozess der Gesellschaftsentwicklung zum Abschluss gekommen sei.

Fukuyama bestätigte seine Thesen einige Jahre später. Im Jahr 1992, als er weiterhin für die US-Regierung beschäftigt war, erschien sein Buch "Das Ende der Geschichte". Und in der Tat erschien es nach dem Untergang der UdSSR auch so, dass sich nunmehr die liberale westliche Ordnung weltweit durchsetzen würde, da jede Alternative zu ihr gescheitert sei. Doch der Politikwissenschaftler und seine Anhänger irrten, sie irrten von Anfang an.

Heute sieht es nicht mehr nach dem Endsieg des Liberalismus beziehungsweise der totalen Verwestlichung der Welt aus. Ganz im Gegenteil: Zwar löste der Markt die Planwirtschaft ab, aber statt der freiheitlichen Demokratie erstarkte die Oligarchie. Das westliche Ideal konkurriert heute mit dem Moskauer Modell der „gelenkten Demokratie“ oder mit dem eines zunehmend konfuzianisch geprägten Staatsverständnisses Pekings. Aber auch im „alten Westen“ halten Lobbyisten den Parlamentarismus im Griff, werden Bürger von Suchmaschinen und Geheimdiensten auf eine Art und Weise überwacht, welche die Schreckensvisionen George Orwells bald eingeholt haben dürfte. Überall wachsen antiliberale Bewegungen heran, die eine Kluft zwischen den politischen Eliten und der breiten Bevölkerung offenbaren. Sie reagieren auf gesellschaftliche Konflikte. Wo Menschen mit dem Komplexen einer freien Welt nicht fertig werden, sehnen sie sich nach „bewährtem Vergangenen", nach „alter Übersichtlichkeit" zurück. Entladen sich politische Spannungen, fegen sie alte Ordnungen hinweg, stürzen Regierungen und tauschen Eliten aus. Sie schaffen Neues oder auch nur Anderes, nicht immer Ideales. Vielleicht hilft der Ökonom Joseph Alois Schumpeter das Phänomen besser zu verstehen, wenn er von „schöpferischer Zerstörung" spricht.

Ins Wanken geraten ist zum einen nach dem Kalten Krieg die entstandene liberale Weltwirtschaftsordnung, die sich auf die NATO, die westlichen Finanzinstitutionen und die volle Liberalisierung des Welthandels stützt. Nein, der Ostwind hat bisher nicht über den  Westwind gesiegt, so wie es Mao Tse-tung einst prognostiziert hatte - doch eine geopolitische Umstrukturierung ist ohne Zweifel feststellbar. Rund drei Jahrzehnte nach dem Mauerfall in Berlin ist der chinesische Staatskapitalismus stärker als jemals zuvor. Flankiert vom wachsenden Wohlstand und einer aufsteigenden Mittelschicht setzt die „sozialistische Marktwirtschaft" Chinas ganz auf die fortschreitende Globalisierung der Märkte, worunter in den meisten westlichen Ländern die verarbeitende Industrie zu leiden hat – vor allem auch die US-amerikanische, die Präsident Donald Trump in seiner ersten offiziellen Rede vor dem „Massaker" zu bewahren versprach.

Wir befinden uns in der seltsamen globalen Ausgangslage, dass die Volksrepublik China zum Protagonisten des Freihandels avanciert, während die USA auf protektionistische Instrumente zurückgreift. Angesichts dieser für den Westen eher düsteren innen- und außenpolitischen Ausgangslage, hat sich der Verkünder des „Ende der Geschichte" wieder zu Wort gemeldet. Nachdem sich seine historische Prognose vom Ende der Geschichte in den Trümmern von 9/11 und dem darauffolgenden "Krieg gegen den Terror" verflüchtigte und sich dann 2008 im Rahmen der globalen Finanzkrise vollständig in Luft auflöste, klagt der Politikwissenschaftler, der mittlerweile an der forschungsstarken Standford-Universität lehrt, heute darüber, dass die Gesellschaft - er bezieht sich natürlich auf die westliche Gesellschaft - durch Identitätspolitik gefährdet sei. Diese Identitätspolitik, von Fukuayama als „Tribalismus“ bezeichnet, führe zur Fragmentierung der Gesellschaften. Gemäß der Postulate von Multikulturalismus, Antirassismus, Feminismus und anderen Formen dieses Tribalismus beschreibe diese jedoch nicht einen geordneten Zustand des Zusammenlebens unterschiedlicher Gruppen in einer Gesellschaft und deren gemeinsames Streben nach dem Gemeinwohl. Vielmehr führe dieser Kult der Vielfalt zwangsläufig zur Balkanisierung, so Fukuyama.

Unabhängig davon, was man von dem neuen Versuch Fukuyamas halten mag, die Gesellschaft zu erklären und historische Prozesse vorherzusagen, so mag es doch lohnenswert erscheinen darüber nachzudenken, angesichts der Realität die Frage aufzuwerfen, was unsere Gesellschaften eigentlich zusammenhält beziehungsweise welche Entwicklungen den diagnostizierten Zustand erst herbeigeführt haben. Man wird diese Frage nicht befriedigend beantworten, wenn man die wirtschaftspolitischen Rahmenbedingungen außer Acht lässt, von denen unsere Epoche geprägt wird - vom Börsenkapitalismus, der nicht nur die alten Marktwirtschaften außer Kraft gesetzt hat, sondern auch Grenzen schleift, Waren und Dienstleistungen in Bewegung setzt und Menschen zur Verlassen ihrer Heimat motiviert beziehungsweise zwingt. Im Westen selbst hat die Frage nach Partizipation und Gerechtigkeit in den liberalen Demokratien, besonders nach der Finanzkrise 2008, einen neuen Höhepunkt erreicht. "Es wurde kein einziges Verfahren gegen jemanden aus den Führungsetagen des Finanzsektors eingeleitet", stellt der britische Journalist John Lanchester diesbezüglich fest. Das Volk wählt, aber das Kapital entscheidet - nicht die Politik regiert, sondern die Wirtschaft, so lautet das Urteil einer wachsenden Anzahl von Wähler_innen über ihre liberalen Demokratien.  

Fukuyama widmet sich diesen Themen nicht, und verwechselt so Ursache und Wirkung der von ihm nicht zu Unrecht festgestellten Entwicklung - aber die ökonomische Entmachtung des Staates findet bei ihm nicht statt. Die Beantwortung der Frage, was unsere Gesellschaften zusammenhält, ist von ihm nicht zu erwarten. "Die Eliten haben ihre Schäfchen ins Trockene gebracht und die Risiken vollständig sozialisiert", erklärte der weltweit führende Rechtspopulist Stephen Kevin Bannon, früher selbst Investmentbanker bei Goldman Sachs. Und das ist das beunruhigende an der Zeit, in der wir leben: Solche Aussagen werden von rechts getätigt, während sich die Linken sich in ihre Lebensstilenklaven zurückziehen oder schon zurückgezogen haben.


Ramon SchackRamon Schack (geb. 1971) ist Diplom-Politologe, Journalist und Publizist. Er schreibt für die „Neue Zürcher Zeitung“, „Zeit Online“, „Deutschland-Radio-Kultur“, „Telepolis“, „Die Welt“ und viele andere namhafte Publikationen. Ende 2015 wurde sein BuchBegegnungen mit Peter Scholl-Latour – ein persönliches Porträt von Ramon Schack" veröffentlicht, eine Erinnerung an geteilte Erlebnisse und einen persönlichen Austausch mit dem berühmten Welterklärer.


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ramon_schack@yahoo.de Thu, 25 Oct 2018 14:46:00 +0200
Versuch einer Annäherung: iranisch-islamisches Volksprimat und westlich-liberale Demokratie https://www.multiperspektivisch.de/nachricht/detail/48.html Die Geschichte der Menschheit legt Zeugnis von unterschiedlichen Regierungsformen ab. Vor etwa... Die Geschichte der Menschheit legt Zeugnis von unterschiedlichen Regierungsformen ab. Vor etwa 3.000 Jahren suchte Hammurabi (1811 v. Chr. - 1750 v. Chr.) eine Antwort auf die Frage, wie Menschen in einem Gemeinwesen zusammenleben können. Dabei kodifizierte er als "Vater der Legislative" das Straf-, Zivil- und Handelsrecht. Spätestens seit Platon (428/427 v. Chr. - 348/347 v. Chr.) wird die Frage gestellt, wie ein Idealstaat aussehen könnte. Ähnliche und konkretere Versuche finden wir auch bei Abu Nasr Farabi (872 n. Chr. -950 n. Chr.), einem bedeutenden Philosophen der Islamischen Welt. Welche Staatsform ist nun die vortrefflichste? Autokratie, Theokratie, Technokratie oder Demokratie? Letztlich hält jede Regierungsform sich für die vortrefflichste. Thema des vorliegenden Beitrags ist die kritische Würdigung der zwei Modelle bzw. Lesarten: iranisch-islamisches Volksprimat und westlich-liberale Demokratie.

In vielen Diskursen geht man davon aus, dass der Islam erst gemäß dem europäischen Welt- und Menschenbild „umgekrempelt“ werden müsse, um ihn "demokratiekompatibel" zu machen. Andere denken, dass Islam und Demokratie im Grunde keine Gegensätze seien und keine Notwendigkeit eines „Umkrempelns“ nach westlichem Muster bestehe.

Der Islam war jedenfalls in der Geschichte des Westens oft ein Forschungsobjekt von Philosophen, Historikern, Orientalisten, Islamwissenschaftlern oder Ethnologen. Die Ergebnisse solcher Art „Forschungen“ sind, von wenigen Ausnahmen abgesehen, Unterstellungen, auf die hier kurz eingegangen werden soll:

-   Seit der ersten Koranübersetzung auf Initiative des Abtes von Cluny, Petrus Venerabilis (1092 -1156), im 11. Jahrhundert, wird über den Islam ein "Verunglimpfungsdiskurs" geführt. Den Islam bezeichnet er als „tödlichen Virus“ und „gottlose Irrlehre des ruchlosen Muhammad“. Selbst Nikolaus von Kues (1401 - 1464), ansonsten durchaus Vater der europäischen Toleranz, teilt Jahrhunderte später die gleiche Auffassung.

Seit Beginn des 18. Jahrhunderts wird über den Orient und die Muslime paradoxerweise zusätzlich ein "Romantisierungsdiskurs" geführt. Schwärmerisch-exotische Vorstellungen karikieren Muslime als Haremsbesitzer und Märchenprinzen aus 1001 Nacht. Irrationales und tyrannisches Wesen wird für eine „orientalische“ Konstante gehalten.

Mit dem Kolonialismus tritt ein weiteres Moment hinzu: der "Bevormundungsdiskurs". Europäer wüssten alles besser und alles wird bekämpft, was nicht ins eigene Weltbild passt.

-   Parallel dazu wird ein „Abwertungsdiskurs“ geführt. Sie werden verblüfft sein, aber selbst der große Immanuel Kant (1724 - 1804) hat in mehreren Werken wiederholt betont, Orientalen seien „nicht vollkommen“ wie die Europäer. Sie hätten keinen „Begriff von Moral und Ästhetik“. Weiter sagt Kant, Afrikaner müsse man es mit dem Knüppel geben, weil sie eine dicke Haut hätten. Das war nicht ironisch oder metaphorisch gemeint.

-   Ähnlich wird auch ein "Fanatismusdiskurs" geführt. Friedrich Wilhelm Hegel (1770 - 1831) schreibt in seinem Werk „Weltgeschichte der Religionen“, dass das Thema Islam nicht würdig sei, in den Text aufgenommen zu werden - man solle nur in einer Fußnote auf ihn verweisen. Der Islam hätte außer Rohheit und extremem Fanatismus nichts zu bieten.

Generationen sind im Westen mit diesem Welt- und Menschenbild ausgebildet und geprägt worden. Aber die These des Autors dieser Zeilen ist, dass Islam und Demokratie in gewisser Weise zwei Seiten derselben Medaille darstellen. Dies soll wie folgt diskutieren werden. Die Fragen sind:

  • Was bedeutet Demokratie?
  • Welches Menschenbild wird einerseits im Islam und andererseits im Westen zugrunde gelegt?
  • Was sind Grundzüge eines islamischen Volksprimats?
  • Welche Gemeinsamkeiten und Unterschiede weist jenes mit der westlich-liberalen Demokratie auf?

Im Anschluss wird eine Hermeneutik der Lesarten vorschlagen, um diese beiden Positionen miteinander ins Gespräch zu bringen. Dabei versteht sich unter Lesart die subjektive Betrachtung oder Interpretation eines Sachverhaltes.

Was ist das Wesen der Demokratie?

Freie und geheime Wahlen, Stimmrecht für alle, Gewaltenteilung, Versammlungs- und Pressefreiheit. Die Grundlage einer jeden Demokratie ist eine vom Volk direkt oder indirekt gewählte Verfassung. Alle Demokratien sind sich darüber einig, dass die Mehrheit die Regierung stellen soll. Minderheiten haben dabei ihre Vertreter im Parlament und können ihren Interessen auch in einer oppositionellen Partei Ausdruck verleihen.

Das islamische Volksprimat stützt sich auf den Koran, den heiligen Buch der Muslime und der wichtigsten Geistesquelle des Islams: „Es gibt keine Nötigung in der Religion“ (Sure 2, Vers 257), um die Menschenwürde zu schützen und um religiösen Minderheitenschutz zu garantieren. Allerdings gibt es, wie hier bei uns auch, eine Grenze der Toleranz. Diese Grenze wird überschritten, wenn gewisse Aktivitäten die demokratisch legitimierte Grundordnung des Staates gefährden. Dies sind Einschränkungen, die es in allen Demokratien gibt und geben muss. Andererseits gibt es in strafrechtlicher Hinsicht in allen Demokratien deutliche Unterschiede. Während die Todesstrafe in den USA ein Bestandteil ihrer Verfassung ist, wird sie bei uns in Deutschland verurteilt.

Grundsätzlich gilt: Die Werte, auf denen eine Verfassung beruht, können durchaus säkular, aber eben auch sakral begründet sein. Auch Mischungen von beiden sind möglich. Die westlich-liberale Demokratie beansprucht ausschließlich säkular zu sein, während das islamische Volksprimat eine Mischung von beiden ist. Hieraus ergeben sich Unterschiede, die im Folgenden reflektiert werden sollen.

Die Verfassung eines Staates begründet sich nicht aus sich selbst: Sie gründet auf einem bestimmten Welt- und Menschenbild

Nach islamischem Verständnis gilt der Mensch als Geschöpf Gottes und besitzt, jenseits seiner Herkunft und Hautfarbe, eine naturgegebene Würde. Letztere resultiert aus seinem Verhältnis zu Gott.

Nach diesem Menschenbild besitzt der Mensch nicht nur Vernunft und Verstand, worauf in zahlreichen Stellen im Koran verwiesen wird, sondern auch Würde. So heißt es: „Und wahrlich wir haben den Kindern Adams Würde verliehen…“ (Sure 17, Vers 70). Deshalb garantiert der 6. Paragraph des 2. Artikels der iranischen Verfassung: „Ehre und Würde des Menschen und seine mit Verantwortung verbundene Freiheit vor Gott.“

Um ein sinnvolles Leben im Alltag zu gestalten, benötigt der Mensch eine Orientierungsinstanz, welche in Iran, neben der Verfassung, die Religion ist. Dies soll sein Refugium sein, aus dem sich sein Menschsein und seine Würde speisen. So wird durch Gebote und Verbote der Mensch zum Nachdenken aufgefordert, um in ihm den Sinn für das Menschsein zu wecken. Das Menschsein umfasst Elemente wie Gerechtigkeit, Vergebung, Barmherzigkeit und Liebe. Sie gehören nicht nur zu den Prinzipien eines islamischen Volksprimats, wie sie in der iranischen Verfassung zu finden sind, sondern sie sind Grundbegriffe der islamischen Ethik überhaupt.

Die Präambel der iranischen Verfassung garantiert dem Menschen als Geschöpf Gottes seine Rechte. Ein solches Menschenbild schließt allerdings eine extreme Individuation des Menschen wie bei uns in Europa aus. Dagegen nimmt das Kollektiv, also die Gemeinschaft (im Fachjargon: Ummah), in der iranischen Verfassung hohe Priorität ein.

Im Gegensatz dazu hat sich im Westen ein reduktionistisches Menschenbild durchgesetzt, das heißt, dass man alle Komponenten des Menschseins rein biologisch und transzendenzfrei erklärt, sozusagen von unten - aus der Eigengesetzlichkeit der Materie und ihren Interaktionen. Hier wird der Mensch ganz im Sinne der Evolutionstheorie Charles Darwins (1809 - 1882 ) verstanden und dies als eine moderne Religion verteidigt. Wer diese Theorie ablehnt, wird als Traditionalist oder gar bornierter religiöser Extremist stigmatisiert. Im Grunde wäre der Mensch der Höchste aller Affen, der edelste aller Primaten, das Maß aller Dinge. Folgerichtig definiert er selbst seinen ethisch-moralischen Weg nach eigenem Belieben. Religion gilt nach diesem reduzierten Menschenbild als ein zu überwindender historischer Atavismus.

Nach einem solchen Menschenbild nimmt sich der Mensch - frei von jeglichem Gottesbezug - als Makrokosmos wahr. Hier wird von einer autarken Freiheit und völligen Individuation ausgegangen. Der Mensch wird zum Maskenbildner seiner selbst und bestimmt, wie er in der Gesellschaft auftreten möchte.

Wie wir sehen, liegt eine Kluft zwischen dem Welt- und Menschenbild der beiden Gesellschaftsmodelle vor. Aber der Ausdruck „islamisch“, ähnlich dem Ausdruck „christlich“, beschreibt die Essenz, während der Ausdruck „Demokratie“ die strukturelle Form des Staates artikuliert. Von der Essenz her ist das islamische Volksprimat eine auf Gottesbeziehung fußende Herrschaft der „Ummah“ mit demokratischen Methoden.

Rechtslogik im Islam und im Westen im Kontext der Demokratie

Ameneh BahramiUm beide Rechtslogiken zu verstehen, werden im Folgenden zwei Beispiele angebracht:

Ein abgewiesener Liebhaber in Iran hatte seiner Angebeteten, Ameneh Bahrami (s. Foto), einen Kübel Säure übergeschüttet, was zu schlimmen, entstellenden Verletzungen und sogar zur ihrer Erblindung geführt hat. Nach dem islamischen Strafgesetzbuch ist bei einer solchen Tat eine gleichwertige Vergeltung vorgesehen. Dieses Prinzip ist allerdings kein Staatsrecht, sondern ein Bürgerrecht.

Auf Vermittlung der Justiz verhandelten die Familien von Opfer und Täter lange über den vom Prinzip der Gleichwertigkeit angemessenen monetären Schadenersatz. Sie konnten sich aber nicht einigen. Da beantragte die junge Frau vor Gericht die Blendung des Täters. Dieses Recht wurde ihr zugesprochen und sollte von Medizinern vollzogen werden. Erst im Operationssaal und unter dem Ernst der Lage hat der Täter in glaubhafter Weise um Vergebung gebeten. Die Frau hat daraufhin auf ihren Anspruch verzichtet.

Dieser Edelmut hat den damaligen iranischen Präsidenten veranlasst, sie persönlich zu besuchen und ihr seine Hochachtung auszusprechen. Sie sei eine Heldin der islamischen Barmherzigkeit. Sämtliche Kosten einer optimalen chirurgischen Gesichtswiederherstellung für sie wurden durch die Regierung übernommen. Dies ist ein Beispiel dafür, dass die Menschenrechte in Iran, wie gesagt, kein Staats-, sondern ein Bürgerrecht sind.

Nun zu uns in Europa. Als in Norwegen ein Mann mehr als 70 Jugendliche planmäßig und vorsätzlich erschossen hatte, verlangten die Familien der Opfer die Todesstrafe. Der Staat hat aber anders entschieden. Wenn sich nach iranischem Strafgesetzbuch jemand wie Anders Breivik das Recht herausnimmt, das Leben eines anderen Menschen vorsätzlich auszulöschen, so haben die Familien der Opfer das Recht, über Leben und Tod des Täters mitzuentscheiden.

An diesem Punkt scheiden sich die Geister. Während in der iranischen Verfassung ein Menschenrecht ein Bürgerrecht darstellt, wird dieses bei uns im Westen automatisch zum Staatsrecht gemacht. Also der Staat entscheidet alleine, ohne Berücksichtigung des Mitbestimmungsrechtes der Bürger, in diesem Falle das der Opfer. Freilich ist die Würde des Menschen unantastbar. Nach iranischer Rechtslogik hat man allerdings selbst seine Würde zur Disposition gestellt, wenn man in dieser Dimension mordet. Demokratie bedeute demnach weder die Freiheit des Fuchses im Hühnerstall noch unbedingter Täterschutz.

Dies soll kein Urteil darstellen, in welchem Land mehr Volkswille und Basisdemokratie herrscht. Es ist viel mehr ein Plädoyer für eine nicht diskriminierende, also für eine echte Verständigung unterschiedlich gewachsener Rechtskulturen und ihrer Lesarten von Demokratie.

Weiterer Unterschied zwischen beiden Herrschaftssystemen

Das islamische Volksprimat iranischer Prägung erhebt den Anspruch, barmherzige Gerechtigkeit zu verwirklichen. In diesem Gesellschaftsmodell ist Politik ohne Moral nicht möglich. Moral aber hinkt wiederum ohne Religion. Eine solche Grundordnung erlaubt nicht, sich willkürlich zu allem oder zu nichts zu bekennen und sich in beliebigen Lebensformen zu entfalten.

In der westlich-liberalen Demokratie hingegen wird der Mensch als ein Individuum verstanden und kann sein Leben gestalten, wie er will. Gleichgeschlechtliche Lebensführung oder öffentliche Prostitution gehören zu diesem Gesellschaftsmodell. Ist die Prostitution mit der Unantastbarkeit der Menschenwürde im Grundgesetz vereinbar? Hier bei uns würde man sagen: "Ja, es ist nun mal so." In Iran hingegen würde man sagen: "Nein, es ist nun mal nicht so."

Wie wir sehen, sind es die Welt- und Menschenbilder, die die beiden Gesellschaftsmodelle trennen. Diese Tatsache darf man weder kleinreden noch ignorieren. Um es auf den Punkt zu bringen: Durch eine liberal-demokratische Brille westlicher Prägung betrachtet, beraubt das islamische Volksprimat den Menschen seiner Freiheitsrechte. Betrachten wir die Dinge von der anderen Seite her, so beraubt die westlich-liberale Demokratie den Menschen seiner gottgegebenen Würde.

Diese Beispiele machen deutlich, dass diejenigen Lesarten, die verabsolutiert werden, in gewisser Weise gewalttätig werden. Es wird beansprucht, dass die westlich-liberale Demokratie die einzig wahre und menschenwürdige Lesart der Demokratie überhaupt ist. Dieser Anspruch ist bei genauem Hinsehen der Anspruch einer alleinseligmachenden Heilslehre mit missionarischem Charakter. Daher wird konsequenterweise gefordert, andere Religionen aus dem öffentlichen Leben zu verbannen. Eine solche Mentalität versperrt den Weg zu einem echten Dialog zwischen den verschiedenen Lesarten von Demokratie und demokratischer Gesinnung.

Der Ausschluss der Religion hat nach islamischem Volksprimat nicht nur negative Auswirkungen auf die Moral der Gesellschaft, sondern ist auch anti-demokratisch. Iran, um nur ein Beispiel zu bringen, ist ein traditionsbewusstes Land, und die Mehrheit der Menschen in Iran schätzt die Religion. Traditionelle Werte, wie die Familie zu verteidigen, heißt also für sie, Religion und Demokratie zu verteidigen.

Wie lassen sich aber westlich-liberale Demokratie und islamisches Volksprimat miteinander versöhnen?

Beide Gesellschaftsmodelle mit zwei verschiedenen Welt- und Menschenbildern verursachen dann einen Kampf der Lesarten, wenn sie sich verabsolutieren und missionarischen Anspruch erheben

Eine Hermeneutik der Lesarten, um eine argumentative Dialogbrücke zwischen beiden Gesellschaftsmodellen zu bauen, ist unabdingbar. Grundlegend ist es, den gesamten Diskurs kontextuell zu gestalten. Dies bedeutet, beide Gesellschaftsmodelle mit ihren jeweils eigenen Terminologien und Fragestellungen von ihren verschiedenen Positionen her zur Sprache kommen zu lassen. Eine solche Praxis setzt Folgendes voraus: Immerwährende Bereitschaft, sich mit den Augen des Anderen und durch dessen Brille zu betrachten, und der Verzicht auf asymmetrische Vergleiche nach dem Motto: "Ich oben, Du unten!"

Abschließend sei gesagt, dass derjenige, der sein Gesellschaftsmodell als den Königsweg der Weltzivilisation betrachtet, keinen Dialog sucht, sondern gehorsame Vasallen. Die Aufgabe ist und bleibt also die Suche nach einer gemeinsamen Sprache und letztlich die Anerkennung verschiedener Lesarten von Demokratie - mit oder ohne Religion.

Mit freundlicher Genehmigung von IranAnders.

Hamid Reza YousefiUniv-Prof. Dr. Hamid Reza Yousefi lehrte interkulturelle Philosophie und Geschichte der Philosophie von 2010 bis 2017 als Privatdozent an der Universität Koblenz-Landau. Seit 2006 ist er Lehrbeauftragter an verschiedenen deutschen Universitäten, darunter an der Universität Potsdam und Saarland. Er ist Autor zahlreicher Bücher und Abhandlungen. Seine Forschungsbereiche sind - neben der islamischen Philosophie und den Fragen nach Menschenrechten – unter anderem moderne Theorien der Toleranz, Ethik und Hermeneutik sowie angewandte Konzepte der Religionswissenschaft als auch diskurshistorische Kommunikationsforschung.


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hryousefi@uni-potsdam.de Sun, 30 Sep 2018 19:49:51 +0200