02.03.2018 Dr. Markus Fiedler und Shayan Arkian

Religiöse Neutralitätspflicht begünstigt den nicht-neutralen Atheismus


Eine Ordensfrau unterrichtet in der Schule.

Eine Ordensfrau unterrichtet in der Schule.

Der säkulare beziehungsweise laizistische Staat gilt heutzutage nicht nur als das politische Ideal im Westen, sondern wird von ihm global als der Weisheit letzter Schluss beziehungsweise das Ende der Geschichte gefeiert. Wir möchten hier nicht die Frage diskutieren, ob ein Staat oder eine Verfassung überhaupt weltanschaulich neutral sein könnten, was unseres Erachtens unmöglich ist, da auch der laizistische oder säkulare Staat zwingend auf einer Weltanschauung basiert.

Uns geht es hier um die deutliche Akzentverschiebung, um die anwachsende Uminterpretation und den Missbrauch des Säkularismus. Wir erleben zunehmend, dass der Säkularismus mit der Notwendigkeit eines Vorgehens gegen das Religiöse gleichgesetzt wird. Ein solcher antireligiös interpretierter Säkularismus kommt nicht von ungefähr.

Der Säkularismus von Rechts

Der britische Historiker Dr. Jim Wolfreys, der an der in Europa hochangesehnen Universität „King’s College London" Europäische Studien lehrt, weist in seinem Werk „Republic of Islamophobia - The Rise of Respectable Racism in France" darauf hin, dass der Säkularismus beziehungsweise der Laizismus ursprünglich ein Projekt der politischen Linken gewesen sei, man heute aber durchaus von einem „Säkularismus von Rechts“ sprechen könne. Am Beispiel Frankreichs hat er aufgezeigt, wie die politische Rechte - unter anderem bei getrennter Wassergymnastik, beim Schwimmunterricht für muslimische Mädchen, beim Tragen von Burkinis am Strand und so weiter - immer wieder im Namen des Säkularismus argumentiere, um gegen religiöse Symbole oder religiös bedingte Kleidung vorzugehen.

Ein herausragendes Beispiel dabei ist für ihn eine getrennte Wassergymnastik für Frauen in einem Schwimmbad im französischen Lille, wobei sich nur eine einzige Muslima unter den Teilnehmern der Wassergymnastik befunden habe. Das Thema sei von der Rechten aufgegriffen und zu einer landesweiten anti-islamischen Kampagne gemacht worden, sodass sich sogar der damalige Präsident Hollande dafür stark gemacht habe, dass „die Unantastbarkeit gemischter republikanisch-säkularer Schwimmbäder“ gewährleistet werden müsse.

Auch hier ist eine radikale Akzentverschiebung zu konstatieren: Heute begeistern sich viele Konservative beispielsweise für den Kampf um Frauenrechte (ebenfalls ursprünglich eine Forderung der politischen Linken), weil sie fast alle ihre früheren Positionen im Laufe eines langen Rückzugsgefechts geräumt haben und offenbar nur die Feindschaft gegen den Islam als verbindendes Element erhalten blieb. Und so ist es auch möglich, dass eine Frau wie Alice Weidel zum einen eine Spitzenfunktion bei der rechtskonservativen Partei AfD einnehmen kann und zum anderen sogar mit einer aus Sri Lanka stammenden Frau in einer eingetragenen Lebenspartnerschaft lebt. Kritikern der Homo-Ehe, die Muslime sind, werden von der AfD vorgeworfen, sie würden eben noch im Mittelalter leben. Offenbar gelten nun auch gleichgeschlechtliche Ehen bei vielen Konservativen als eine abendländische Errungenschaft, die es gegen den Islam zu verteidigen gilt.

In dem Moment, wo jedoch Konservative erkennen, dass sich viele tatsächliche oder vermeintliche religiöse Werte des Islams mit ihren ursprünglichen Werten decken, kann dies zu einer Art Erweckungserlebnis und sogar zur Konversion führen, wie es kürzlich um den AfD-Politiker Arthur Wagner geschah oder zuvor um den Front National-Stadtrat Maxence Buttey.

Dieser „Säkularismus von Rechts“ würde jedenfalls Wolfreys zufolge eben hauptsächlich dazu benutzt, um eine anti-islamische Politik zu verdecken. Und so kommt es, dass sich der neue konservative „Säkularismus von Rechts“ letztlich auch gegen die Religion überhaupt wendet, was sich auch an der zunehmenden Zahl von Atheisten bei der AfD zeigt.

Der Atheismus unter dem Deckmantel des Säkularismus

Heute haben wir es meistens mit dem „voraussetzungslosen Atheismus“ zu tun. Und die Bezeichnung Atheismus leitet sich vom griechischen Wort „theos“ (Gott) ab, ebenso wie etwa die Begriffe „Theismus“ oder „Theologie“. Der Begriff „Atheismus“ ist jedoch ein verneinender Begriff – und als ein solcher ist somit bereits eine Festlegung verbunden, auch wenn ein Atheist es ablehnen mag, mit einem Gläubigen auf eine Stufe gestellt zu werden.

Um zu verstehen, warum auch der Atheismus ein Glaube ist, muss man sich zum Beispiel den Unterschied zwischen Agnostizismus und Atheismus vergegenwärtigen. Während der Agnostizist die Erkennbarkeit des Göttlichen oder einer (oder mehrerer) göttlichen Instanz leugnet, leugnet der Atheist die Existenz. Ein Atheist gibt somit vor zu wissen, dass es keinen Gott gebe, obwohl dass natürlich ebenso wenig wissenschaftlich nachzuweisen ist wie die Existenz Gottes empirisch zu beweisen ist.

Der Atheismus ist deshalb nicht nur zweifellos eine Weltanschauung, er ist daher ebenfalls ein Glaube wie jede Religion. Er ist ein Glaubenssystem, und so wie bei jedem anderen Glaubenssystem gibt es Menschen, die sich für diesen Glauben begeistern. Sie arbeiten an Büchern, Zeitschriften und auch im Internet hart daran, andere Menschen davon zu überzeugen, wenn nicht sogar zu missionieren, dass der Atheismus der richtige Glaube sei. Dabei ist auch eine zunehmende Aggressivität zu konstatieren. Religion wird aus dieser Sichtweise als gesellschaftlich unproduktive Spinnerei angesehen, die nur den Einzelnen betreffe, gesellschaftlich nicht nur keinen Nutzen bringe, sondern als Ursache für Spaltung und Konflikte angesehen und daher keineswegs als förderungswürdig betrachtet.

Für Atheisten ist der Atheismus eben die normale Einstellung. Eine Vorgehensweise ist es hierbei, den Atheismus als den natürlichen Zustand des Denkens darzustellen. Das heißt, man geht bei einem neugeborenen Kind davon aus, dass bei diesem kein Glaube an Gott vorhanden sei. Der Glaube an Gott sei demnach kein Teil der natürlichen Bewusstseinsreife und werde von der Gesellschaft (Eltern, Freunde, Gesellschaft usw.) aufgedrängt, wenn es auch andererseits schwer zu erklären sei, warum der Glaube an Gott ein in allen Gesellschaften zu allen Zeiten vorzufindender Archetyp ist.

Dieser „voraussetzungslose Atheismus“ will nur auf die empirischen Erfahrungen beziehen und sich damit ein positivistisch-wissenschaftliches Mäntelchen umhängen, womit man „neutral“ erscheinen mag. Dieses Konzept erinnert stark an den französischen Philosophen und Religionskritiker Auguste Comte (1798-1857), den Begründer des Positivismus, und sein Dreistadiengesetz, nach dem die Menschen im positiven beziehungsweise wissenschaftlichen Stadium ihrer Entwicklung (nach Überwindung des religiösen und metaphysischen Stadiums) jede Frage nach Gott verwerfen und nur noch Phänomene untersuchen, um Gesetzmäßigkeiten festzustellen. Doch es war ausgerechnet Comte, der seinen Positivismus ausdrücklich als „neue Religion“ bezeichnete und schließlich sogar eine bis heute existierende „Positivistische Kirche“ mit Tempeln und eigenem Kultus in unter anderem Frankreich, Rumänien und den USA gründete. Das Eingeständnis, dass diese Form des Atheismus eben auch nur ein Glaube ist, könnte nicht deutlicher ausfallen!

Nun, was hat das alles mit Säkularismus zu tun? Nach Wolfreys müsse sich ein säkularer Staat sowohl gegenüber Gläubigen als auch gegen Atheisten neutral verhalten und als eine Art Vermittler fungieren. Wäre der Staat tatsächlich neutral, dann dürfte er nicht einseitig nur gegen religiöse Symbole oder religiös bedingte Kleidung zu Felde ziehen. Stattdessen müsse er für die religiös-weltanschauliche Vielfalt offen sein. Im Namen des Säkularismus mache der Staat aber Front gegen die gläubigen beziehungsweise religiösen Menschen, nicht jedoch gegen die Atheisten, weil diese vermeintlich „neutral über allem" stünden. Wenn beispielsweise eine katholische Ordensfrau nicht unterrichten dürfte, indes eine Lehrkraft ohne sichtbar religiöse Symbole schon, würde so ausschließlich die klassisch-religiöse Seite benachteiligt. Die gesamte Gesellschaft bekommt in der Folge eine neo-religiöse Schlagseite. Insofern wird keine Neutralität hergestellt, wenn man der Lehrerin das Kopftuch, der Staatsanwältin den Kruzifix-Anhänger und dem Richter die Kippa abnimmt, sondern vielmehr wird dadurch die "neo-religiös"-weltanschauliche Position des Atheismus der Gesellschaft aufgedrückt.

Dies ist selbst dann so, wenn der Atheismus nicht als eine "neue Religion" verstanden wird, denn er bleibt nichtsdestotrotz eine inhärent weltanschauliche Position. Infolgedessen ist die Argumentation, dass Beamten_innen nicht mit religiösen Symbolen für den Staat nach Außen agieren dürften, da sie auf diese Weise ihre individuellen Weltanschauungen auf den Staat projizieren würden, widersprüchlich, denn dies würde ebenso vollumfänglich auf atheistische Beamten_innen ohne religiöse Symbole zutreffen - dabei sei die Bundesrepublik Deutschland nach ihrem Selbstbild nicht atheistisch, sondern weltanschaulich und religiös neutral.

Folgerichtig kann eine religiöse Neutralität für den demokratisch-freiheitlichen Staat nicht bedeuten, einzig und allein eine gesellschaftliche Gruppe vorzuziehen, während er andere ausschließt, sondern er hat eine offene Neutralität zu formulieren, die gegenüber dem Pluralismus in der Gesellschaft offen ist und ihm einräumt, auch an dem Staat aktiv zu partizipieren.

Dr. phil. Markus FiedlerDr. phil. Markus Fiedler ist Autor von mehreren Büchern und zahlreichen Artikeln mit dem Schwerpunkt Islam und Muslime in der europäischen Wahrnehmung.


 


Shayan ArkianShayan Arkian
ist unter anderem Politik- und Medienberater und studierte Politik, Philosophie, Pädagogik und Theologie in Hamburg und Qom.

 


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Fereshta02-03-18

Sehr schöner Artikel, der mir aus dem Herzen spricht!

Sevinç10-03-18

Eine tolle Ausarbeitung....schenkt mir Argumente für mein Berufs- sowie Studiumsalltag. Danke dafür!

Torsten11-03-18

Das sehe ich anders. Es ist ja nicht die Schuld der Atheisten, dass sie keine sichtbaren Erkennungsmerkmale oder Kleidervorschriften haben. Genauso wie sie keinerlei gemeinsame Regeln oder Gebote haben. Atheisten eint nur, dass Sie an keinen Gott glauben. Natürlich dürfen Christen wie Juden oder Muslime im Staatsdienst arbeiten. Nur eben religiöse Symbole haben dort nichts zu suchen, weil das widerspricht der Trennung von Reigion und Staat.

Demokratie heißt nicht, es allen recht zu machen, sondern Kompromisse zu suchen. Das gilt auch für Religionen. Dass unterscheidet ja gerade eine Demokratie von einem religiösen Staat wie dem Iran. Dort zwingt der Staat alle Frauen ein Kopftuch zu tragen. Das ist zutiefst undemokratisch und zeigt, dass immer Vorsicht geboten ist, wenn Gläubige nach Toleranz rufen. Weil damit sieht es meist schlecht aus, wenn diese an der Macht sind.

SA14-03-18

@Torsten

- Zwar gibt es natürlich auch Juden, Christen und Muslime, die keine erkennbare religiöse Symbole tragen, aber weil ausschließlich der Atheismus dafür steht, diese nicht zu tragen, aber Religionen eben schon, kommt ein Versagen dieser eine Bevorzugung des Atheismus gleich. Es gibt objektiv keine neutrale Kleidung. Standard bedeutet nicht neutral.

- Trennung von Religion und Staat bedeutet nicht unbedingt, dass Religiosität aus dem Staat verbannt wird, sondern dass wie in der Bundesrepublik der Staat nicht zwingend auf Grundlage der Religion Gesetze verabschiedet.

- Demokratie heißt streng genommen Herrschaft des Volkes und wenn in Iran die Mehrheit beschließt, dass es eine Kleiderordnung für Mann (keine kurze Hosen) und Frau (Kopftuch) gibt, dann ist es in dem Sinne demokratisch.

- Und Ihr Kompromiss im Sinne Ihres Demokratieverständnisses bedeutet, muslimische Frauen zu zwingen, ihr Kopftuch während des Staatsdienstes für einen demokratisch-freiheitlichen Staat abzunehmen?!

Torsten15-03-18

Es scheinen aber viele Menschen in Iran nicht mit der Kleiderordnung einverstanden zu sein, weil sonst gäbe es nicht so viele Demonstrationen dagegen. Und wenn ich Ihr Demokratieverständniss nähme, wäre es dann ja genauso gerechtferigt, wenn die Mehrheit des Volkes beschlösse, das religiöse Symbole in staatlichen Einrichtungen nichts zu suchen hätten. Und ja, für mich ist es so ein Kompromiss, dass muslimische Frauen ihr Kopftuch abnehmen, wenn sie im Staatsdienst arbeiten wollen. Ich als Atheist zum Beispiel muss es ja auch akzeptieren, dass zum Beispiel der Bau von Moscheen mit Steuergeldern unterstützt wird.

SA29-03-18

@Torsten

- Aus der jüngsten repräsentativen Umfrage geht das nicht hervor, sondern eher das Gegenteil (s. http://www.multiperspektivisch.de/nachricht/detail/35.html ) und zudem demonstrieren ziemlich wenige Frauen konkret gegen die Kleiderordnung.

- Ich hatte nicht definiert, was gerechtfertigt oder legitim sei, sondern was demokratisch ist.

- Bisher wurde keine einzige Moschee mit Hilfe von direkten Steuergeldern gebaut. Und außerdem: Wieso muss eine muslimische Lehrerin mit Kopftuch auf ihre grundgesetzlich verbrieftes Recht auf Religionsfreiheit verzichten, wenn an anderer Stelle in einem anderen Ort der Bau einer Moschee mit Steuergeldern unterstützt wird, die sie ohnehin nicht besuchen wird? Das ist für einen demokratisch-freiheitlichen Staat ein sehr merkwürdiges Kompromiss. Im Übrigen, wenn man schon in solchen Logiken Überlegungen anstellt, dann ist zu sagen, dass Muslime in Deutschland weit mehr Steuer zahlen, als dass Steuergelder für Moscheebauten ausgegeben werden.





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