30.01.2019 Jasmin Mazraani

Konstruiertes Spezifikum: Muslimische Minderheit in Deutschland


Statistik für 2017: Mehr als 1.000 islamfeindlich motivierte Straftaten sind offiziell registriert worden. Die echten Zahlen dürfte nach Recherchen des MiGAZIN deutlich darüber liegen.

Statistik für 2017: Mehr als 1.000 islamfeindlich motivierte Straftaten sind verübt worden. Die Dunkelziffer dürfte nach Recherchen des MiGAZIN deutlich über den offiziellen Zahlen liegen.

Warum werden in Zeiten von besorgniserregenden politischen Ereignissen die Fragen nach Identität und Freiheit vermehrt in der Abgrenzung zum Islam und den Muslimen thematisiert? Deutschland plagt eigentlich ein Pflegenotstand, eine immer größer werdende Schere zwischen Arm und Reich, Kinderarmut, Bildungsungleichheit, eine "organisierte Kriminalität" von Bankern, Brokern, Beratern und Investoren, die den deutschen Staat um sage und schreibe mehr als 30 Milliarden Euro - bis heute ungestraft - geplündert haben und und und. Man vernimmt allerdings ständig ausgrenzende Debatten zur Identität, Freiheit und Neutralität. Ausgetragen werden solche Diskussionen auf den Rücken derer, die diese Diskussionen zwar ausmachen, aber die dabei offenbar nicht mitreden (dürfen).

Mit politischen Begriffen wird die Sozialität einer Mehrheit begründet, um mit gesenktem Zeigefinger auf die muslimische Minderheit zu zeigen und sich über ihre vermeintliche Asozialität zu echauffieren. Sie belehrt die Minorität, wie man sich in dieser Gesellschaft zu verhalten hat und sie fordert einen Werteunterricht für Neuankömmlinge, ähnlich wie es der Anspruch der Kolonialisten gegenüber den "Wilden" war. Mit auf sie drückendem Zeigefinger und mit Ablehnung soll diese Minorität lernen, wie man in der Gesellschaft aufzusteigen hat. Der Komiker und Satiriker Abdelkarim vergleicht es mit einem Discobesucher, der zwar nicht reinkommt, aber trotzdem mittanzen soll.

Welche Diskurslogik steckt also dahinter, dass gegen den Islam und Muslimen gerichtete Identitätsdebatten und Fragen nach Freiheit und Fortschritt gerade in Zeiten aufkommen, in denen ganz andere Arten von gesellschaftlichen und politischen Problemen entstehen, die wirklich die breite Masse betreffen? Und stets wird eine Bedrohung von Identität, Freiheit und Fortschritt der Mehrheitsgesellschaft durch die muslimische Minderheit konstruiert.

Es mutet angesichts dieses künstlich am Leben gehaltenen, aber umso massiveren Diskurses nicht seltsam an, warum andere Anschauungen von Minderheiten von diesen „Anerkennungsdebatten“ ausgenommen sind. Zwar war es richtig, sich mit Juden zu solidarisieren, als ein Junge aus antisemitischer Intention heraus einen Menschen auf offener Straße mit einem Gürtel schlug - aber als im Vergleich dazu einem muslimischen Mädchen auf offener Straße das Kopftuch von einem erwachsenen Mann, samt Haarsträhnen, heruntergerissen wurde, war es auffällig, dass es keinerlei ähnliche Solidarisierungsbekundungen gab. Der Ministerpräsident von Nordrhein Westfalen, Armin Laschet (CDU), kündigte dagegen sogar eine Vorbereitung des Kopftuchverbots an.

Dass die muslimische Diaspora bei ihnen widerfahrenen Gewalttaten von der Politik im Stich gelassen wird und sie sich sogar unangemessen verhält, ist in den letzten Jahren eine sich wiederholende Praxis. So bekundete beispielsweise der neu ernannte Innenminister Horst Seehofer (CSU) in seinem ersten Interview - just nachdem es mehrere Angriffe auf Moscheen und andere muslimische Einrichtungen gab - sogar, dass der Islam nicht zu Deutschland gehöre. Anschließend diskutierte man so umfassend wie ungenau den Antisemitismus unter Muslimen, so als ob er ihm erst mit ihnen in Deutschland gibt. Und schließlich wurde das Kopftuchverbot für unter 14- jährige Schülerinnen zur Prüfung veranlasst.

Zur Rekapitulation: Nachdem durch Gewalt offenbart wurde, dass es eine Islam- bzw. Muslimfeindlichkeit gibt, halten es einige führende Politik für richtig, über die Aberkennung des Islams, über die Feindlichkeit der Muslime und über den Zwang der muslimischen Eltern gegenüber ihren muslimischen Töchtern zu debattieren, statt sich schützend vor die verletzliche Minderheit zu stellen. Moralisch gesehen, höchst fragwürdig - und auch sehr taktlos. Oder vielleicht gerade taktvoll? Denn mit diesem einseitigen Bashing lässt sich ein Wahlkampf führen.

Dass man aber in den Grundrechten der Muslimen eingreifen und ihre Bekleidung und Handlungsfreiheit einschränken will, um eine vermeintliche Neutralität zu kreieren, ist vielmehr ein Ausdruck der Unfähigkeit zur selbstherrlich propagierten Modernität und Aufgeklärtheit. Es offenbart die Hilflosigkeit, im 21. Jahrhundert nicht mit echt verschiedenen Denkweisen und Anschauungen umgehen zu können. Wenn eine Frau mit Kopftuch, ein Sikh mit Turban, ein Jude mit Kippa, eine Christin mit Kreuz und ein Atheist mit dem Fehlen eines religiösen Zeichens (das auch als ein Ausdruck einer Position und Weltanschauung zu verstehen ist) erfolgreich und problemlos miteinander arbeiten, dann sollte sich das nicht wie der Anfang eines unterhaltsamen Witzes anhören, sondern normale Realität sein.

Es gibt Gesellschaften, in denen solch eine Vielfalt in der Öffentlichkeit angestrebt wird, wie z.B. in Kanada. Was dort als Mehrwert betrachtet wird, ist den Deutschen offenbar ein Graus. Allerdings hat Deutschland auch eine andere Einwanderungsgeschichte als Kanada. Hier wurden Migranten hereingelassen, die Deutschland aufbauen und danach wieder verlassen sollten. Darauf wartet man offensichtlich noch immer. Es hält sich der hartnäckige Widerwillen, muslimische Gruppen, die in Deutschland die Wurzeln ihrer Identität geschlagen haben, anzuerkennen.

Es ist daher nicht von ungefähr, dass nicht selten die muslimische Minoritäten und jene, die ihre Benachteiligung beklagen, als Unruhestifter wahrgenommen werden. Sie werden als Opfer verhöhnt, als Übertreiber, als Rebellen, als jene, die den gesellschaftlichen Frieden in Gefahr bringen, und deswegen werden sie mit Beschränkungen belegt plus einer „ihr-seid-unterlegen“-Message. In der Logik des Überlegenen ist das schlüssig: Widerstand von Minderwertigen gegen eine Maßnahme, die ich verhängt habe, ist eine Zumutung! Dementsprechend hat unter den Muslimen das diskutierte Kopftuchverbot für Schülerinnen zwar Widerstand erweckt, aber ihre Twitter-Hashtag-Aktion (#nichtohnemeinkopftuch) und auch sonstige Gegenstimmen wurden abwechselnd belächelt oder auf die „Islamistenschiene“ geschoben.

Der wissenschaftliche Dienst des Bundestags und auch andere Juristen bestätigen jedoch, dass ein Kopftuchverbot verfassungswidrig sei. Der wissenschaftliche Dienst zitiert hierbei das Bundesverfassungsgericht, das allerdings die Ausnahme anführt, dass bei Störung oder Gefährdung des Schulfriedens die religiöse Bekundung zu untersagen sei.

Inwiefern kann aber die Anwesenheit eines kopftuchtragenden Mädchens zur Gefahr für den Schulfrieden werden? Mobbt dieses Mädchen mit dem bloßen Tragen ihres Kopftuchs andere und ist sie damit eine Gefährderin? Sollte bei einer solchen Erwägung nicht klugerweise ein solcher Betrachter seine Sichtweise revidieren? Denn zumal wenn in diesem politisch-gesellschaftlichen Klima abermals ein Mädchen aufgrund ihrer religiösen Bekleidung gemobbt wird, würde man aller Voraussicht nach das Opfer kriminalisieren und zugunsten des Täters und seiner diskriminierenden Haltung urteilen. Dies wäre wie der Vorfall, in dem einem Mädchen das Kopftuch weggerissen und danach über eine Vorbereitung des Kopftuchverbots diskutiert wurde.

Warum wird überhaupt ein Verbot ernsthaft erwogen, welches zumindest verfassungsrechtlich fraglich ist? Was für einen Einfluss haben solche Debatten auf die werdende Identität von Muslimen und deren Kinder? Das Argument des Kindeswohl kann es nicht sein, da bei einem Verbot damit zu rechnen ist, dass die kopftuchtragenden Mädchen ausgegrenzt und mit Gewissenskonflikten beladen werden. Hat man überhaupt mit Frauen und Mädchen, die das Kopftuch freiwillig tragen, über den Grund ihres Tragens geredet? Will man den Grund überhaupt in Erfahrung bringen? Will man hören und kann man akzeptieren, dass sie es primär aus spirituellen Gründen tragen, oder beharrt man auf das konstruierte „Anti-Sex-Argument“, das sie selbst nicht anführen?

Unbescholtene Minderheiten integrieren sich nicht besser, wenn man sie mit Prohibitionen gängelt, vielmehr führt dies zum Gegenteil. Das Grundgesetz gilt für alle Bewohner Deutschlands, auch für die Minoritäten und ihre Kleinsten.


Jasmin Mazraani Jasmin Mazraani ist Islam- und Sozialwissenschaftlerin und forscht über das politische und kulturelle Leben von Minoritäten.

 

 


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