Ein Plädoyer für eine globale Ethik


Maßlose Umweltverschmutzung.

Ergebnisse der Maßlosigkeit.

Vergleicht man den Menschen mit anderen Lebewesen, so ist das Wesen des Menschen voller Widersprüche. Er vermag nach islamischer Vorstellung qualitativ integrer, moralischer und wahrhaftiger sein als die Engel, so dass selbst diese sich gewünscht hätten, Menschen zu sein. In seiner Selbstbestimmtheit und Freiheit könne er sich aber auch von seinem edlen Menschsein entfernen und vom höchsten zum niedrigsten Wesen herabsinken.

Das Bild, das wir uns vom Menschen, von der Schöpfung und vom Leben formen, sagt viel darüber aus, wie wir selbst sind. Stets gilt es zu fragen: Was ist der Mensch, was sind seine Bedürfnisse und welche Wege gibt es, diese Bedürfnisse zu befriedigen? Wir sollten uns bewusst sein, dass unser Lebensstil nicht anders ist als unsere Wahrnehmung und unser Bild vom Leben. Unser Weltbild ist ausschlaggebend für unser Selbstbild.

Nach dem Koran, dem heiligen Buch der Muslime und der wichtigsten Geistesquelle des Islam, könne der Mensch das Ebenbild Gottes werden. In dieser Funktion als Gottes Ebenbild - oder besser gesagt als Gottes Repräsentant (Khalif) - würde der Mensch das Gute, das Erhabene und das Schöne verkörpern. Jeder sei in der Lage, diese Stufe zu erreichen, jedoch müsse er all seinen Einsatz einbringen, um auf dem Pfad dieser Tugenden voranzuschreiten. Das Bestreben, die eigene Persönlichkeit zu einer göttlichen Stufe reifen zu lassen, sei letztendlich mit dem Ergebnis verknüpft, Gelassenheit und Frieden zum Wohle der gesamten Menschheit zu bringen.

Die Quelle eines solchen Friedens sei in Gott zu finden und in dem, was das Göttliche verkörpere. Im Koran wird darauf verwiesen, dass es der Glaube und das Gedenken an Gott sei, der dem Menschen Gelassenheit schenke. Je mehr wir uns dieser göttlichen Quelle nähern würden, um so erfolgreicher kämen wir auch der ersehnten Gelassenheit näher. Ruhelosigkeit, Krieg und Blutvergießen würden daher rühren, dass wir uns von dieser Quelle entfernt hätten. Diese Entfremdung vom Göttlichen sei die Ursache der gegenwärtig herrschenden Maßlosigkeiten rund um den Globus.

Unveränderliche und unbeständige Bedürfnisse der Menschen

Der Islam nimmt an, dass der Mensch zwei Arten von Bedürfnissen habe, die ihn seit seiner Schöpfung begleiten. Dies seien zum einen unveränderliche Bedürfnisse und zum anderen unbeständige Bedürfnisse. Unveränderliche Bedürfnisse seien das Streben nach Vollkommenheit, Gelassenheit und letztlich Glückseligkeit. Diese seien bei allen Menschen in jeder Epoche gleich. Selbst derjenige, der Selbstmord begehe, tue dies demnach, um Frieden zu erlangen. Unbeständige Bedürfnisse seien hingegen nicht nur von Mensch zu Mensch unterschiedlich, sondern sie könnten sich je nach individuellen oder gesellschaftlichen Umständen ändern. Sie würden beispielsweise den individuellen Geschmack, den Zeitgeist oder die von der jeweiligen Kultur oder Sozialisation geprägten Interessen umfassen.

Die Unterschiedlichkeit der beiden Arten von Bedürfnissen lege nah, dass ihre jeweilige Befriedigungen in unterschiedlichen Kontexten festzulegen seien. Nach islamischer Anschauung fänden sich die Regelung der unveränderlichen Bedürfnisse in den eindeutigen Grundlagen des Koran, wie der Glaube und das Gelassenheit spendende Gedenken an einen absolut vollkommenen Gott, Der in allen Schönheiten der Existenz manifestiert sei, ohne dass Er selbst materiell und damit beschränkt sei. Die Regelung der unbeständigen Bedürfnisse könne dagegen nicht allein in den Heiligen Schriften festgelegt sein, da ihrer Wechselhaftigkeit Rechnung getragen werden müsse. Solche Weisungen fänden sich im Islamischen Recht (im Fachjargon: Scharia), das unter Berücksichtigung von Zeit und Ort veränderbar sei. Betrachten wir andere Religionen, so begegnet uns dasselbe Konzept: Die Regelungen der unveränderlichen menschlichen Bedürfnisse finden sich in den jeweiligen eindeutigen Grundlagen der Heiligen Schriften, während Weisungen als Beschlüsse von Konzilien oder ähnlichen Gremien in veränderbaren Regelwerken zu finden sind.

Ergänzen die unbeständigen Bedürfnissen die unveränderlichen, so garantieren sie Harmonie und Gelassenheit. Stehen sie aber im Widerspruch, so hat dies weitreichende Konsequenzen für die menschliche Lebensführung. Leider ist es eine weit verbreitete Praxis geworden, die beiden Kategorien der unveränderlichen Glaubensgrundsätze und der veränderbaren Gesetzlichkeit vermischt zu denken und sie sogar zu verwechseln. Dies ist zum Beispiel der Fall, wenn auf religiöse Bestimmungen bestanden wird, deren ursprüngliche Sinnhaftigkeit während des Erlasses nicht mehr in einer anderen oder gegenwärtigen Gesellschaft vorliegen. In der deutschen Sprache spricht man in solchen Fällen passend von "nicht im Sinne des Erfinders".

Die Hauptmisere unserer Zeit: Maßlosigkeit

Mir geht es nicht darum festzulegen, welches Menschenbild das richtige oder das falsche sei. Es erscheint allerdings, dass unsere praktische Definition von der Welt, den Menschen und das Leben grundlegenden Irrtümern unterliegt, die uns daran hindern, ein besseres Leben zu führen. Die immer schneller handelnde, ruhelose gegenwärtige Welt, ihre rastlosen Menschen mit instabilen Lebensbeziehungen sind ein Indiz für diese Annahme. Die unglaublich schnell fortschreitende Digitalisierung unserer Welt und Lebensweise und das Auseinanderdriften von gesellschaftlichen Schichten, die Zerrüttung von Familien und die damit einhergehende zunehmende Einsamkeit und diverse andere Probleme sind Indizien einer Zukunft, die sich immer schwieriger gestalten könnte.

Warum ist der Mensch, trotz der nahezu unermesslichen technologischen Fortschritte sowie Konformisierungen, in allen Bereichen ruheloser und unzufriedener denn je geworden? Sicher ist Gelassenheit eine verlorene Tugend des Menschen, welche diese Unruhe hervorruft. Dieser Verlust ist auch eine Quelle der alltäglichen Hetze und  Pöbeleien im World Wide Web. Die gleichen hetzenden und pöbelnden Menschen sehnen sich aber in Wirklichkeit nach Gelassenheit, im gleichen Augenblick trauern sie jedoch ihren unerfüllten Bedürfnissen nach und suchen krampfhaft nach einer Erfüllung dieser Bedürfnisse.

Ohne damit eine detaillierte wissenschaftlich Analyse des Sachverhaltes zu liefern, möchte ich unmittelbar darauf hinweisen, dass Maßlosigkeit ein Hindernis für die Gelassenheit geworden ist, die der Mensch braucht, um inneren Frieden zu erlangen. Wir sind gefangen im Strudel unserer selbstverschuldeten Ruhelosigkeit. Und diese Ruhelosigkeit hat nicht nur individuelle und gesellschaftliche Auswirkungen, sondern auch ökologische, ökonomische und politische Folgen: Die Eingriffe des Menschen in die Natur haben uns so weit gebracht, dass es heute in bestimmten Gegenden kaum mehr brauchbares Trinkwasser, saubere Luft oder gesunde Nahrungsmittel gibt. Wir treten unsere Zukunft mit Füßen, wenn die Ärmsten in den unterschiedlichen Winkeln unserer Welt nicht über das Lebensnotwendige verfügen, während sie massenweise Waffen in der Hand haben, um sich gegenseitig zu bekämpfen. Immer gibt es Menschen, die sich ihren vermeintlichen Frieden durch den Krieg in anderen Gegenden der Welt erkaufen.

Es wird immer dringender, dass sich Entscheidungsträger, Meinungsmacher und Intellektuelle gemeinsam aktiv für Rahmenbedingungen einsetzen, die eine moralische Genesung der Menschen begünstigt. Von Bedeutung ist die Einsicht, dass es für die Welt kein besseres Rezept als ein moralisches Menschsein gibt. Ich spreche nicht im Namen einer bestimmten Ideologie, sondern von einer Ethik, die im pluralistischen Sinne moralische Verhaltensweisen, die in allen Religionen und Weltanschauungen eine starke Verankerung haben, als ein Manifest für eine moralische Welt wirbt. Eines dieser ethischen Prinzipien, das in der Lage ist, auf der einen Seite viele Probleme des Individuums und somit der Welt zu lösen und auf der anderen Seite ein Grundkonsens nahezu aller Anschauungen darstellt, ist die Mäßigung.

Ja, wir brauchen mehr denn je Mäßigung, sei es auf der individuellen, der gesellschaftlichen, der ökologischen, der ökonomischen oder der politischen Ebene. Mäßigung ist der Schlüssel für die Lösung vielerlei gegenwärtige Probleme.

Von der Realisierbarkeit einer globalen Ethik

Man mag der Auffassung sein, dass ich ein Tagträumer sei oder einer Utopie nachjagen würde. Dabei denke ich weder politisch noch philosophisch, sondern eigentlich nur praktisch:

Durch die Globalisierung sitzen wir alle im selben Boot und sind darauf angewiesen, uns alles zu teilen. Wir haben auf andere Rücksicht zu nehmen und sind angehalten, Verantwortung zu übernehmen. Schließlich haben wir einen Fahrplan des gemeinsamen Zusammenlebens zu gestalten. Wir sind alle gemeinschaftlich verantwortlich für den Frieden, die Sicherheit und die Stabilität in unserer Welt. Wer diese in Gefahr bringt, gefährdet auch sich selbst, denn die Grenzen unseres globalen Dorfes liegen eng beieinander. Der beißende Rauch aus dem einen Dorf reicht so weit, dass er die Augen der Bewohner aller anderen Dörfer zu Tränen reizen kann.

Das Wissen darum bedarf nicht viel Einsicht. Und Einsicht ist der Motor für die Etablierung einer globalen Ethik - wie die Einsicht darüber, dass alle Menschen das unveränderliche Bedürfnis nach Glückseligkeit haben und wenn die Voraussetzungen zur Befriedigung dieses Bedürfnis nicht hergestellt werden, es sich massiv rächen wird. Leider ist jedoch zu beobachten, dass selbst Gläubige - teils aus Unwissenheit, teils aus Halbwissen - aus der Vermischung von unveränderlichen und unbeständigen Bedürfnissen der Menschen eine Religion propagieren, die sie und andere zum Sklaven ihrer eigenen religiösen Illusion werden lässt. Sie präsentieren einen verstümmelten Glauben, der niemandem nützlich ist. Sie orientieren sich nicht am Maßstab der Vernunft, um religiöse Inhalte und Grundlagen zu verstehen, sondern sie setzen ihr religiöses Halbwissen mit eigensinnigen Interpretationen absolut.

Viele Persönlichkeiten haben auf die anstehenden Probleme hingewiesen und globale Lösungsperspektiven aufgezeigt und vorgeschlagen, wie zuletzt der Dalai Lama. Gewiss ist eine globale Ethik nicht einfach zu etablieren, diese kann jedoch erreicht werden, wenn wir deren Verwirklichung mit Tatkraft und Willen fördern. Ein solches Projekt kann nicht die Tat eines Einzelnen sein, sondern es bedarf einer globalen Bewegung. In unserem globalisierten Zeitalter sollte der Mensch so weit gereift sein, um eine solche Einheit in der Vielfalt herbeiführen zu können. Meine Hoffnung ist die Blüte einer globalen Menschheit und einer menschlichen Globalität auf der Grundlage der Moral.


Mohammad Razavi RadDr. phil. theol. Mohammad Razavi Rad ist spezialisiert auf Religionswissenschaft und Religionsphilosophie und ist Autor von mehreren Büchern, Publikationen und Aufsätzen und ist Direktor des Instituts für Human- und Islamwissenschaften in Hamburg.

 


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Heribert Adel21-03-18

Immer wieder interessant, zu erkennen, dass alle Probleme letztlich aus der Seele rühren, die allerdings natürlich auch in der Wechselwirkung mit der Gesellschaft steht.





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