01.11.2018 Dr. Sven Speer

Trotz Neutralitätsgebot: Religion wird von Staat bewertet und beeinflusst


Die heiligen Schriften des Judentums, Islams und Christentums mit den entsprechenden religiösen Symobolen.

Die heiligen Schriften der drei großen abrahamitischen Religionen.

Aleviten, Ahmadis und Millî Görüş: Wer ist „richtiger“ Moslem? Auch wenn dies für viele eine wichtige Frage ist, so muss sie für den Staat irrelevant sein. Der Staat muss die Beantwortung letzter Fragen seinen Bürgern überlassen und darf keine Position zum Wahrheitsanspruch von Religionen und religiösen Personen beziehen. Darüber hinaus muss jeder Einzelne seine Religion oder Nichtreligion privat und öffentlich so leben können, wie er es für richtig hält. Das schließt öffentliche Diskussionen über Religion und Religionszugehörigkeiten nicht aus. Aber der Staat darf die Grenzen von Religionszugehörigkeiten nicht definieren, das dürfen nur die religiösen Gemeinschaften selbst.

Das ist das Ideal der Offenen Religionspolitik. Verwirklicht ist es nur in sehr wenigen Staaten der Welt. Auch dem deutschen Staat ist religiös-weltanschauliche Neutralität vom Grundgesetz aufgegeben und dennoch wertet und beeinflusst er Religion. Das Problem ist dabei nicht, dass der Staat religiöse und weltanschauliche Gemeinschaften fördert. So ermöglicht der deutsche Staat Religionsunterricht an öffentlichen Schulen, den Einzug der Kirchensteuer, Theologie an staatlichen Universitäten, die Finanzierung religiöser Wohlfahrt und vieles mehr. Das Problem ist, dass die Förderung selektiv erfolgt und dadurch einzelne Gruppen gegenüber anderen gestärkt werden.

Desinteresse der Politik

Das Höchstmaß an staatlicher Förderung erreichen die römisch-katholische Kirche, die evangelischen Landeskirchen und der Zentralrat der Juden in Deutschland. Der Staat kooperiert und unterstützt diese Gemeinschaften gern. Es ist für diese in der Regel kein Problem, Schulen und Krankenhäuser zu errichten und Religionsunterricht an öffentlichen Schulen zu erteilen. Essentiell ist für den Status dieser Gemeinschaften, dass ihre Lehren als glaubhaft, glaubwürdig und förderungswürdig gelten.

Dahinter zurück stehen Gemeinschaften, die zwar niemandem schaden, aber dennoch als weniger glaubhaft, glaubwürdig und förderungswürdig angesehen werden. Dazu gehört eine ganze Reihe christlicher Kirchen wie die Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage und die Neuapostolische Kirche, aber auch Gemeinschaften wie die Bahai, der Humanistische Verband, unitarische Christen und die Aleviten. Manchmal ist es die tatsächliche oder vermeintliche Fremdheit, die eine engere Kooperation mit dem Staat verhindert, manchmal sind es schlicht die fehlende Größe oder fehlende Strukturen, häufig schlicht Desinteresse seitens der Politik.

Ziel des Staates: „Moderater“ Islam

Erstaunlich groß ist das politische Interesse bei denjenigen Gemeinschaften, die als gefährlich eingestuft werden. Dies betrifft heutzutage insbesondere die drei Millionen Muslime in Deutschland, darunter mehr als eine Million Deutsche. Ausgrenzung (allein) halten viele Politiker gegenüber Muslimen für die falsche Strategie. Stattdessen müsse der Islam integriert, zivilisiert und demokratisiert werden. Entsprechend werden große staatliche Programme aufgesetzt, um einen „moderateren“ Islam hervorzubringen.

Um eines ganz klar zu sagen: Der deutsche Staat verfolgt keine Minderheiten. Aber er schafft Anreizstrukturen, mit deren Hilfe sich einzelne Gemeinschaften und einzelne Strömungen in Religionen besser behaupten können als andere. Diese Lenkungswirkung kann die Gemeinschaften vor ungewollte – und in meinen Augen unnötige – Probleme stellen.

Beispiel: Die Aleviten

Deutlich wird das am Beispiel der Aleviten. Während sie im Osmanischen Reich als Häretiker verfolgt wurden, sind sie in der Türkei einem Sunnitisierungsdruck ausgesetzt. Wenig überraschend ist daher, dass die Auffassungen unter Aleviten weit auseinandergehen, ob sie Muslime sind oder nicht. In diese inneralevitische Diskussion hinein wirken nun die Anreizstrukturen des deutschen Staates. Die bis in die Politik verbreitete Islamophobie macht es für Aleviten attraktiv, sich nicht als Muslime zu verstehen. Durch die Betonung des eigenen humanistischen Erbes kann es gelingen, sich als die „guten Einwanderer“ aus der Türkei zu präsentieren – im Gegensatz zu den muslimischen – was dann von der Politik honoriert wird.

Andererseits investiert der deutsche Staat große Mittel in die „Integration“ des Islam und eben nicht in die Gleichberechtigung aller Religionen und Weltanschauungen. Für Aleviten und ihre Verbände stellt sich daher die Frage, ob sie auf der Seite der Muslime stehen und von Förderprogrammen profitieren wollen oder ob sie auf der Seite der anderen kleineren Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften stehen wollen, die viel weniger von staatlicher Förderung profitieren. Wer zum Beispiel intensiv mit dem Staat über die Förderung von Religionsunterricht, Theologie und Wohlfahrt sprechen will, sollte tunlichst Mitglied der Deutschen Islam Konferenz sein. Entsprechend sind die Aleviten Mitglied der Deutschen Islam Konferenz – trotz der eigenen Zweifel an der Zugehörigkeit zum Islam. Es gibt schlicht keine bessere religionspolitische Plattform.

Gleichberechtigung statt Integration

In meinen Augen hat die Frage, ob Aleviten Muslime sind oder nicht, eine viel zu hohe politische Bedeutung. Der deutsche Staat sollte sich befreien von der „Integration“ der Muslime und stattdessen an der Gleichberechtigung aller Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften arbeiten. Die Ausweitung der Deutschen Islam Konferenz in eine Deutsche Konferenz für Religion und Weltanschauung (DKRW) wäre dafür ein wichtiger Schritt. Bei der DKRW könnten alle Gemeinschaften mit dem Staat diskutieren, wie sie die Kooperation mit diesem verbessern können – ohne dass irgendjemand ein Bekenntnis für oder gegen den Islam (oder beides zugleich) abgeben müsste. Durch die DKRW würden auch endlich säkulare Humanisten, Mormonen, Bahai und viele andere einbezogen werden. Bislang ist das Forum Offene Religionspolitik die einzige Institution die eine Deutsche Konferenz für Religion und Weltanschauung fordert, aber wir bemühen uns um Mitstreiter.

Für einen derartigen Kurs der konsequenten Öffnung, eine Offene Religionspolitik werbe ich weltweit – alle religiösen und nichtreligiösen Minderheiten betreffend. Offene Religionspolitik respektiert die Religiosität des Einzelnen. Ihr sind sowohl staatliche Missionierung als auch staatliche Säkularisierung verwehrt. Sie lässt die Antwort auf letzte Fragen offen und gibt keine Wahrheiten vor. Die Entscheidung für oder gegen eine Religion überlässt eine offene Religionspolitik dem einzelnen Bürger.

Kopftuchverbot macht Bürgerinnen zu Fremden im eigenen Land

Offen muss der Staat auch für das gelebte Bekenntnis seiner Bürger sein. Zwar ist Religion Privatsache, aber dennoch hat jeder Bürger das Recht, seine Religion oder Weltanschauung in das öffentliche Leben einzubringen. In der geschlossenen Religionspolitik hingegen kann nicht jeder Bürger sein religiöses oder weltanschauliches Bekenntnis öffentlich leben. Ein Beispiel dafür ist das so genannte Kopftuchverbot: Einige Bundesländer untersagen muslimischen Lehrerinnen, ihre Religiosität mit einem Kopftuch auszudrücken. Das gleiche galt für Frauen an türkischen Universitäten. Durch ein derartiges Verbot macht der Staat Bürgerinnen zu Fremden im eigenen Land.

Konflikte sind bei der aus der Offenheit hervorgehenden oder sichtbar werdenden Vielfalt vorprogrammiert. Aber wenn wir in einer religiös-weltanschaulich vielfältigen Gesellschaft friedlich leben wollen, müssen wir uns auf die Andersartigkeit des Anderen einlassen. Wir müssen uns von der Vorstellung verabschieden, die Bürger eines Landes alle gleich machen zu können (und das damit irgendetwas gewonnen wäre). Das gleiche gilt für die Vorstellung, alle Anhänger einer Religion oder Tradition in einem Land gleich machen zu können. Wir müssen lernen, für die Vielfalt offen zu sein.

Staat hat Ziel einer einzigen Organisation aufgegeben

In Deutschland hat die Politik endlich das Ziel aufgegeben, alle Muslime in einer einzigen Organisation zusammenfassen zu wollen. Ausdruck dafür ist die Anerkennung der Ahmadiyya Muslim Jamaat als Körperschaft des öffentlichen Rechts und der Einrichtung von Religionsunterricht für Ahmadis. Auch die DITIB steht kurz vor einer derartigen Anerkennung. Die gleiche organisatorische Vielfalt muss auch im Alevitentum möglich sein und vom Staat anerkannt werden. Es darf für den Staat keine Rolle spielen, ob sich Aleviten als Muslime verstehen oder nicht – oder ob sie sich nicht festlegen. Der Staat sollte mit allen Gemeinschaften ganz gleich welcher Ausrichtung freundschaftlich kooperieren. Das gilt nicht nur für die alevitische Gemeinschaften, sondern auch für (andere) muslimische Gemeinschaften, christliche Kirchen, humanistische Organisationen usw. Und das gilt für Deutschland wie für die Türkei wie für jedes andere Land der Welt.


Mit freundlicher Genehmigung von IslamiQ.


Sven SpeerDr. phil. Sven Speer ist Vorsitzender des Forums Offene Religionspolitik (FOR) seit dessen Gründung 2011. Als Mitarbeiter und im Rahmen von Vorträgen und Gutachten berät er Regierungsorganisationen, Abgeordnete, Religionsgemeinschaften und Verbände zum Verhältnis von Staat und Religion – u.a. in Berlin, Jerusalem, Beirut, Kairo, Washington D.C., Houston und Salt Lake City. Speer hat Politikwissenschaft und Geschichte studiert und am Exzellenzcluster ‚Religion und Politik‘, am German Marshall Fund of the United States und am Institut für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien zur politischen Regulierung von Religion geforscht.


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Volker27-12-18

Ich weiß nicht, ob man das, wofür der Autor plädiert, in aller Welt tragen kann, denn jedes Land hat eine andere Verfassung und andere Prinzipien. Aber was Deutschland angeht, passt seine Position nahtlos mit dem Grundgesetz, umso unverständlicher daher, dass es nicht so umgesetzt wird!





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