20.04.2018 Robert Fisk

Exklusiv: Nahost-Experte Robert Fisk besichtigt den Ort des mutmaßlichen Chemiewaffenangriffs in Duma


Mutmaßlich verletzte Opfer eines vermuteten Chemiewaffenangriffs auf Douma.

Mutmaßlich verletzte Opfer eines vermuteten Chemiewaffenangriffs auf Douma.

Das ist die Geschichte einer Stadt namens Douma, einem verwüsteten, übelriechenden Ort von zertrümmerten Wohnblöcken - und von einer Untergrundklinik, deren Bilder des Leids drei westliche Großmächte letzte Woche dazu brachten, Syrien zu bombardieren. Und es ist die Rede von einem freundlichen Arzt in grüner Jacke, der, als ich ihn in derselben Klinik aufspürte, mir heiter erzählte, dass die Videoaufnahme über den mutmaßlichen Giftgasangriff, welche die Welt allen Zweifeln zum Trotz entsetze, vollkommen authentisch sei.

Kriegsgeschichten haben jedoch die Angewohnheit, das Graue weiter zu schwärzen. Das gilt auch hier alsdann der 58-jährige syrische Arzt etwas zutiefst Unbehagliches hinzufügte: Die Patienten, sagt er, seien nicht durch Gas überwältigt worden, sondern durch Sauerstoffmangel, indem sie in den mit Müll gefüllten Tunneln und Kellern lebten und in der Nacht durch Wind und starken Beschuss ein Staubsturm ausgelöst wurde.

Während Dr. Assim Rahaibani diese außergewöhnliche Schlussfolgerung verkündet, ist es wichtig zu wissen, dass er einerseits selbst einräumt, kein Augenzeuge gewesen zu sein, und andererseits zweimal im guten Englisch die bewaffneten Dschihadisten von Jaysh al-Islam in Douma als "Terroristen" bezeichnet - eine Wortwahl, die das Regime für seine Gegner verwendet, aber auch ein Begriff, der von vielen Menschen quer durch Syrien benutzt wird. Nun, höre ich richtig? Welche Version der Ereignisse haben wir zu glauben?

Zu meinem Unglück waren alle Ärzte, die in dieser Nacht des 7. Aprils hier Dienst hatten, gerade in Damaskus und wurden von einem C-Waffen-Untersuchungsteam befragt, das bestrebt ist, in den kommenden Wochen eine definitive Antwort darüber zu geben, ob C-Waffen eingesetzt wurden oder nicht.

Mittlerweile sagt Frankreich, dass es "Beweise" für den Einsatz von chemischen Waffen habe, und US-Medien zitieren Quellen, die besagen, dass Urin- und Bluttests dies ebenfalls aussagen. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) sagt ferner, dass ihre Partner vor Ort 500 Patienten behandelt haben, die "Anzeichen und Symptome aufweisen, die mit toxischen Chemikalien in Zusammenhang stehen".

Zur selben Zeit werden die Inspektoren der „Organisation für das Verbot chemischer Waffen“ (OPCW) daran gehindert, hier den mutmaßlich mit chemischen Waffen angegriffenen Ort zu besichtigen, angeblich weil ihnen die korrekte UN-Erlaubnis fehlten.

Bevor wir das Thema über den Giftgasangriff weiter erörtern, sollten die Leser wissen, dass dies nicht die einzige Geschichte in Douma ist. Es gibt sehr viele Menschen, mit denen ich inmitten der Ruinen der Stadt sprach, die gesagt haben, dass sie "nie geglaubt haben an" die Gas-Berichte - die immer wieder im Umlauf gebracht wurden, wie sie behaupten, von militanten islamistischen Gruppen. Diese sonderbaren Jihadis überlebten unter einem Schneesturm von Granatfeuer, indem sie in den Wohnungen anderer Menschen lebten sowie in riesigen, breiten Tunneln mit unterirdischen Straßen, die von Gefangenen mit Spitzhacken auf drei Ebenen unterhalb der Stadt durch gewachsenen Felsen gehauen wurden. Ich bin gestern durch drei von ihnen gegangen, riesige Korridore aus anstehendem Gestein, in denen immer noch russische - ja, russische - Raketen und ausgebrannte Autos geborgen sind.

Die Geschichte von Douma ist also nicht nur eine Geschichte von Gas - oder eben kein Gas, wie immer es sein mag. Es ist auch eine Geschichte über Tausende von Menschen, die sich letzte Woche nicht dazu entschieden haben, mit den Bussen Seite an Seite mit den Bewaffneten, mit denen sie ohnehin monatelang wie Höhlenbewohner leben mussten, um zu überleben, sich aus Douma evakuieren zu lassen. Ich bin gestern ziemlich frei durch diese Stadt gelaufen, nicht mit einem Soldaten, Polizisten oder Aufpasser, der mich auf Schritt und Tritt verfolgen würde, sondern nur mit zwei syrischen Freunden, einer Kamera und einem Notizbuch. Manchmal musste ich über 20 Fuß hohe Befestigungsmauern erklimmen, hoch und runter - sogar fast steile Erdwälle. Glücklich, Ausländer unter sich zu sehen, noch glücklicher, dass die Belagerung endlich vorbei ist, lächeln sie meistens; zumindest diejenigen, deren Gesichter man sehen kann, weil eine überraschende Anzahl von Doumas Frauen weiterhin schwarze Hijabs in Lebensgröße tragen.

Ich fuhr zunächst als Mitglied eines eskortierten Konvois von Journalisten nach Duma. Aber als ein langweiliger General vor einer zerstörten Sozialwohnung die Ansage machte, dass er keinerlei Informationen habe - war das schon das Hilfreichste vom Schutthaufen der arabischen Bürokratie - und da bin ich einfach gegangen. Mehrere andere Reporter, hauptsächlich Syrer, taten dasselbe. Selbst eine Gruppe russischer Journalisten - alle in Militärkleidung - seilten sich ab.

Es war ein kurzer Fußweg bis zu Dr. Rahaibani. Von der Tür seiner unterirdischen Klinik - "Punkt 200" heißt sie in der unheimlichen Geologie dieser teilweise unterirdischen Stadt - führt ein Korridor hangabwärts, wo er mir sein bescheidenes Krankenhaus und die wenigen Betten zeigt, worin ein kleines Mädchen am weinen war, als Krankenschwestern einen Schnitt über ihrem Auge behandelten.

"Ich war in der Nacht mit meiner Familie im Keller meines Hauses dreihundert Meter entfernt von hier, aber alle anderen Ärzte wissen, was passiert sei. Es gab eine Menge Beschuss [von Seiten der Regierungstruppen] und nachts flogen stets die Flugzeuge über Douma - aber in dieser Nacht gab es diesmal Wind und riesige Staubwolken begannen, in den Untergeschossen und Kellern, in denen die Menschen lebten, zu gelangen. Die Menschen, die hier ankamen, begannen daraufhin unter Hypoxie, also Sauerstoffmangel, zu leiden. Dann schrie jemand von den Weißhelmen an der Tür: 'Gas!' Und die Panik brach aus. Die Leute fingen an, sich gegenseitig mit Wasser zu überschütten. Ja, das Video wurde hier gedreht, es ist echt, aber was Sie darin sehen, sind Menschen, die an Hypoxie leiden - und nicht an einer Gasvergiftung."

Nachdem ich mit mehr als 20 Leuten geplaudert hatte, konnte ich seltsamerweise keinen einzigen finden, der das geringste Interesse an Dumas Rolle als Auslöser für die westlichen Luftangriffe zeigte. Zwei sagten mir sogar, dass sie den Zusammenhang nicht kennen.

Es war eine seltsame Welt, in die ich mich hineinbegab. Zwei Männer, Hussam und Nazir Abu Aishe, sagten, sie seien unwissend darüber, wie viele Menschen überhaupt in Duma getötet worden seien, obgleich der Letztere zugab, dass er einen Cousin hatte, der "aufgrund seiner angeblichen Nähe zum Regime von Dschaisch al-Islam [der Armee des Islams] hingerichtet wurde". Als ich nach den 43 Leuten fragte, die bei dem berüchtigten Angriff auf Douma gestorben sein sollen, zuckten sie mit den Schultern.

Die Weißhelme - im Westen als medizinischen Ersthelfer bereits legendär geworden, aber mit einigen interessanten Verschneidungen in ihrer eigenen Geschichte - spielten eine gewohnte Rolle während der Kämpfe. Sie werden teilweise vom [britischen, Anm. d. Übers.] Außenministerium finanziert und ihre meisten lokalen Büros waren mit Männern aus Duma besetzt. Ich fand ihre zerstörten Büros unweit von Dr. Rahaibanis Klinik. In einem Raum wurden ein Haufen liegende schmutziger Uniformen des Militärs zum Ablenkungsversuch und draußen vor einem Essensbehälter eine Gasmaske mit durchbohrtem Visier zurückgelassen. "Untergejubelt?", fragte ich mich. Ich bezweifle es. Der Ort war voll mit Patronenhülsen, kaputten medizinischen Geräten sowie Akten, Bettzeug und Matratzen.

Natürlich müssen wir ihre Sicht der Ereignisse auch hören, aber das wird hier nicht geschehen: Eine Frau erzählte uns, dass als der endgültige Waffenstillstand vereinbart wurde, jedes Mitglied der Weißhelme in Douma ihr Hauptquartier verlassen und sich dafür entschieden habe, die von der Regierung organisierten und von Russland geschützten Busse mit den bewaffneten Gruppen in Richtung der Rebellenprovinz Idlib zu nehmen.

Es gab Imbissstände und eine Patrouille der russischen Militärpolizei - ein mittlerweile freiwilliges Extra für jeden Waffenstillstand in Syrien - und es kümmerte niemanden, in das furchteinflößende islamistische Gefängnis in der Nähe des Märtyrerplatzes zu stürmen, in dessen Kellern Insassen vermutlich enthauptet wurden. Das Gegenstück der Stadt, die Zivilpolizisten des syrischen Innenministeriums - die schaurige militärische Kleidung tragen - werden von den Russen bewacht, die wiederum vermutlich oder vermutlich auch nicht von den Zivilisten beobachtet werden. Abermals wurden meine ernsten Fragen zum Gasangriff mit einer echt anmutenden Verwirrung begegnet.

Wie hätte es geschehen können, dass Flüchtlinge aus Duma, die die Flüchtlingslager in der Türkei erst erreicht hatten, bereits über einen Gasangriff erzählt haben können, an den sich heute aber niemand mehr in Duma zu erinnern scheint? Als ich mehr als eine Meile durch diese erbärmlichen und von Gefangenen gewölbte Tunnel lief, kam mir in den Sinn, dass die Bürger von Duma so lange voneinander isoliert lebten, dass "Neuigkeiten" in unserem Sinne für sie einfach nicht zutrafen. Syrien bringt es nicht zu einer „Jeffersonschen Demokratie“ - wie ich es zynisch meinen arabischen Kollegen zu sagen pflege - und es handelt sich in der Tat um eine rücksichtslose Diktatur, die aber diese Menschen nicht genug einschüchtern konnte, glücklich zu sein, Ausländer unter sich zu sehen, mit denen sie wenige Worte der Wahrheit austauschen. Also was haben sie mir berichtet?

Sie sprachen über die Islamisten, unter denen sie gelebt hatten. Sie sprachen darüber, wie die bewaffneten Gruppen Unterkünfte der Zivilisten beschlagnahmt hatten, um den Bombenangriffen der Russen und der syrischen Regierung zu entgehen. Die Jaish el-Islam hatten ihre Büros vor ihrer Abreise niedergebrannt, aber die massiven Gebäude innerhalb der Sicherheitszonen, die sie gebaut hatten, waren fast alle durch Luftschläge in den Boden gestampft worden. Ein syrischer Oberst, dem ich hinter einem dieser Gebäude begegnet bin, fragte, ob ich sehen wolle, wie tief die Tunnel seien. Ich blieb nach gut einer Meile stehen, als er hintersinnig vermerkte, dass "dieser Tunnel bis nach Großbritannien reichen könnte". Ach ja, Frau May, an sie erinnerte ich mich, deren Luftangriffe doch so eng mit diesem Ort von Tunneln und Staub verbunden waren. Aber Gas?

Erstmals veröffentlicht am 17. April 2018 in der britischen Zeitung "The Independent". Übersetzt von Shayan Arkian.


Robert FiskRobert Fisk ist ein britischer mehrfach ausgezeichneter Journalist, der seit 1976 in der libanesischen Hauptstadt Beirut lebt. Er ist einer der wenigen westlichen Journalisten, die Osama bin Laden dreimal interviewten.


 

 


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Anika30-04-18

Endlich gibt es den Text in einer guten Übersetzung!

Haiko Hasan03-05-18

Im Krieg stirbt die Wahrheit immer zuerst. Die Verlogenheit derer, die das Gerücht in Umlauf gesetzt hatten und derer, die diese benutzt haben, um unter Lügen Bombem schmeißen und Menschen töten, ist offensichtlich.... Und dann? Völkerrechtsbruch wird nicht mehr geahndet.

Haiko Hasan03-05-18

War Robert Fisk nicht jener, der festgestellt hatte, dass der im Gepäck von M. Atta gefundene Text womöglich gar nicht von einem Muslim stammte, da er mit den Worten begann: Im Namen Gottes und meiner Familie oder so ähnlich? War das der Grund, warum dieser Brief beim FBI seinerzeit erst ab S. 2 eingestellt war? Fisk mutmaßte namals, dass dies womöglich eine originale Fälschung von der Hand eines der zahlreichen Libanesen in CIA-Diensten sein könnte, die allesamt oder zumeist Christen sind? Wie auch immer, der Mann ist mir schon lange bekannt für seine nonkonformen Recherchen. Die Zeitung heißt ja auch The Independent.

Pedro16-05-18

Erstens: Wenn das schon im Independent erschienen ist und ihr es einfach übersetzt habt, dann ist es nicht "exklusiv". Bleibt wenigstens bei der Wahrheit.

Zweitens: Robert Fisk ist kein seriöser Journalist, sondern jemand, der sich die Wahrheit immer so zurechtrückt, wie es ihm gerade passt, und er wurde dafür viel kritisiert, z.B. von Leuten wie Yassin al-Haj Saleh: https://www.opendemocracy.net/yassin-al-haj-saleh-rime-allaf/syria-dispatches-robert-fisks-independence

Oder hier: https://pulsemedia.org/2016/12/03/robert-fisks-crimes-against-journalism/

Wenn das ist, was ihr unter "MultiPerspektivisch" versteht, dann könnt ihr auch Chemtrail-Verschwörungstheoretiker hier publizieren lassen, oder Leute, die sagen, die Mondlandung sei eine Verschwörung gewesen.

SA18-05-18

@Pedro

Die Übersetzung eines exklusiven Vorgangs, ist auch exklusiv zu bezeichnen. Nicht die Übersetzung wird als exklusiv beschrieben, sondern der Vorgang. Der Titel des Artikels im Original lautet im Übrigen: "Exclusive: Robert Fisk visits the Syria clinic at the centre of a global crisis"

Robert Fisk gehört zu den wenigen, aber wachsenden Anzahl an Journalisten, der auch die Perspektive der syrischen Regierung wiedergibt, die er übrigens auch nicht zu eigen macht. Darüber hinaus lässt er Augenzeugen der anderen Seiten zum Wort kommen. Das macht ihn nicht unseriös, sondern im Gegenteil seriöser als die voreingenommenen Journalisten, die ausschließlich einseitig die fundamental-oppositionellen Meldungen und Darstellungen verbreiten. Rober Fisk scheint da neutraler als die meisten westlichen Journalisten, die über Syrien berichten, zu sein.

Ihr erster angeführter Artikel scheint dies auch zu bestätigen. Nicht einmal solch eine ausgewogene Position wie die von Fisk sind Yassin Al Haj Saleh und Rime Allaf bereit auszuhalten. Ihr Artikel ist substanzlos und lediglich mit Gegenbehauptungen bestückt. Dass die Fundamentalpposition die Aussagen von Fisk widerspricht, soll also eine Widerlegung sein? Dümmlicher ist es, dass der Artikel fast durchgehend versucht, die Aussagen Fisks bloß damit zu widerlegen, indem er darauf hinweist, dass das Regime das gleiche oder ähnliches behaupte. So what? Was kann damit bewiesen, verifiziert oder falsifiziert werden? Das sind Argumentationstechniken auf Unterstufenniveau. Der armseligste Teil des Artikels ist aber folgender: "For the most part, experienced journalists were perfectly capable of distinguishing between straight propaganda from a regime fighting for its survival and real information from a variety of other sources." Das meinen die Autoren wirklich ernst? Inzwischen haben wir 2018 und ich frage mich, ob sie heute nach sechs Jahren diese Aussage genau so wieder tätigen würden.

Der zweite von Ihnen angeführte Artikel schafft es ebenfalls nicht, mehr Substanz zu liefern, reißt er unter anderem doch mehrmals Aussagen von Fisk aus dem Kontext heraus.

Und Ihr Kommentar über Chemtrail-Verschwörungstheoretiker und Mondlandung ist Ihrer nicht würdig.





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