20.12.2017 Shayan Arkian und Dr. Markus Fiedler

Warum protestieren Muslime vermehrt gegen Israel und die USA, aber weniger gegen den IS und die Al-Qaida?


Demonstrationen auch in Berlin: Tausende gingen gegen die Jerusalem-Entscheidung auf die Straße.

Proteste auch in Berlin: Tausende gingen gegen die Jerusalem-Entscheidung auf die Straße.

Nach der Entscheidung von US-Präsident Donald Trump, Jerusalem als Hauptstadt Israels anzuerkennen und die US-Botschaft dorthin zu verlegen, haben weltweit Muslime gegen die Entscheidung des US-Präsidenten protestiert. Dies hat angesichts der Vielzahl an Demonstrationen bei nicht wenigen Beobachtern in Medien so wie in den sozialen Netzwerken für Irritation gesorgt. Es würde ja bloß um eine Verlegung der US-Botschaft gehen und Jerusalem wäre ja bereits faktisch die Hauptstadt Israels, da sich dort schon die wichtigsten israelischen Staatsinstitutionen befänden.

Nur eine Botschaftsverlegung?

Sicherlich kann man argumentieren, dass die Proteste von Muslimen und Arabern, worunter auch Christen zu finden sind, auf die US-Ankündigung überzogen und unverhältnismäßig sind. Allerdings übersehen diejenigen, die die Geschichte auf diese Weise auslegen, ein wichtiges Detail: Es geht darum, einen Präzedenzfall zu verhindern und eine folgenreiche Entscheidung nicht ohne weiteres hinzunehmen. Würde die Masse an Demonstrationen, Protesten und Entrüstungen ausbleiben, würden sich vermutlich weitere Staaten motiviert fühlen nachzuziehen - wovon sie ja offensichtlich eben aufgrund von befürchteten Unruhen abgeschreckt sind. Die Europäische Union hätte höchstwahrscheinlich bei einem Ausbleiben eines Protestes, was in so einem Fall einer Zustimmung gleichkäme, ebenfalls anders auf die US-Entscheidung reagiert als sie es derzeit tut. Politische Fakten (in diesem Fall Jerusalem als die funktionelle Hauptstadt Israels) habe man nach dieser Logik zu bekämpfen, indem man sie in erster Linie nicht legitimiert. Eine internationale Anerkennung Jerusalems als Hauptstadt Israels ohne jegliche Gegenwehr würde aber die völkerrechtswidrige Besatzung palästinensischen Bodens zementieren und hätte dadurch gravierende Folgen für Palästina und damit einhergehend auf den Alltag der dortigen Menschen. Kurzum geht es nicht bloß um eine Botschaftsverlegung oder um etwaige Verletzung von religiösen Gefühlen, sondern um handfeste politische Konsequenzen.

Wieso herrscht unter Muslimen gegenüber Israel und den USA eine größere Sensibilität als gegenüber dem IS und der Al-Qaida?

Häufig liest man diese Tage in den Medien und besonders in sozialen Netzwerken ein Unverständnis darüber, dass Muslime zwar gegen die Untaten von USA und Israel in Massen protestieren würden, aber nicht im gleichen Ausmaß gegen den Terror vom IS und von der Al-Qaida.

Das ist ein zutreffender Punkt. Jedoch ist zu berücksichtigen, dass sich längst im kollektiven Gedächtnis vieler Muslime der politische Westen und Israel - mitunter aufgrund der kolonialen Erfahrungen und des seit 1948 andauernd bestehenden Konflikts mit Israel (der wiederum als Fortsetzung der kolonialen Politik verstanden wird) und der als seit Jahrzehnten islamfeindlich wahrgenommenen Politik der USA (und nicht erst seit Trump) - als „klassische Feinde“ eingebrannt sind. Bei dem IS und der Al-Qaida handelt es sich dagegen um neue Phänomene und diese werden daher - selbst wenn beide Gruppen weit mehr Muslime als Nichtmuslime getötet haben - nicht als die "eingeschworenen Feinde" schlechthin wahrgenommen, zumindest noch nicht. Hinzu kommt, dass unter Muslimen die Vorstellung weitverbreitet ist, dass westliche Regierungen oder Washington bei der Entstehung, Stärkung oder Ebnung des IS und der Al-Qaida zumindest behilflich waren. Oder wie Donald Trump es selbst im Wahlkampf noch schärfer aussagte, habe gar sein Vorgänger den IS gegründet. Inwieweit diese Rezeption zutrifft ist dabei gar nicht einmal von Bedeutung, es zählt allein die Wahrnehmung bei der Behandlung dieser Frage.

Ein weiterer Faktor, der bei diesem Themenkomplex zu berücksichtigen ist, ist der Umstand, dass der sogenannte "Islamischer Staat" (IS) und die Al-Qaida ohnehin weltweit abgelehnt, verhasst, und dämonisiert werden - ebenso in muslimisch geprägten Ländern. Nun wissen wir aus verschiedene Beobachtungen, dass sich Menschen insbesondere dann veranlasst fühlen, auf die Straße zu gehen und zu demonstrieren, wenn sie den Eindruck haben, dass ihre Meinung in der maßgeblichen Politik und der medialen Berichterstattung keinen Ausdruck findet. Wenn sich dann noch die maßgebliche Politik und die Medien sogar vollkommen konträr zur eigenen Position verhalten, verstärken sich Wut und Zorn und die Bereitschaft, etwas dagegen zu unternehmen. Gute Beispiele dafür sind eben die israelkritischen Demonstrationen, aber auch die „Pegida-Proteste“ in Dresden oder die weniger bekannten sogenannten „Pro-Assad-Demonstrationen“ in Berlin. Letztere fanden regelmäßig statt als die hiesigen Medien die Rebellen weitgehend als Demokraten oder Gutmenschen quasi verniedlicht haben. Die Demonstrationen hörten dann aber in dem Moment auf, als ihre Stimme Eingang in den Medien fand und diese begannen, differenzierter und kritischer über die syrische Opposition zu berichten. Es gibt wenig Anreiz zu Demonstrationen, wenn es ein maßgeblich politisches oder mediales systemimmanentes Ventil gibt, der „den Druck aus dem Kessel nimmt“.

Islamisch begründete Terroranschläge führen bei Muslimen zu Gefühlen von Scham statt zu Zorn und Wut

Ein weiterer Grund, der angeführt werden kann, ist, dass grundsätzlich der Missbrauch der eigenen Religion durch Glaubensbrüder oder die ständig vor Augen geführten Gräueltaten der „eigenen Leute“ eher zu Gefühlen von Scham führen, die passiv machen, statt von Zorn und Wut, die einen auf die Straße bringen. Dieses Phänomen ist nicht nur auf Muslime begrenzt. Es gibt beispielsweise kaum Demonstrationen von Katholiken, wenn wiederholt ein Kindesmissbrauchsskandal in einer katholischen Einrichtung publik wird. Ebenfalls gab es kaum nennenswerte Proteste von Buddhisten als buddhistische Mönche zur Vertreibung von Muslimen aus Myanmar riefen. Obwohl zu allen Zeiten im Namen von Religionen, aber auch im Namen von säkularen Weltanschauungen Verbrechen begangen wurden und werden, sind sehr wenige Fälle bekannt, in denen es zu größeren Protesten gegen die Untaten der „eigenen Leute“ kommt.

Weiterhin ist es scheinbar ein natürlicher Instinkt bei Menschen, dass sie gegenüber Untaten von Fremden gereizter reagieren als bei solchen Menschen, die ihnen vorgeblich nahestehen - sei es eine angenommene religiöse, weltanschauliche oder kulturelle Nähe. Je „fremder“ der Fremde zu sein scheint, der eine Untat begeht, desto gereizter wird offenbar reagiert. So ist es selbst auf der Makroebene, im internationalen System, worin Staaten ähnliche Staaten allein kognitiv schon decken, also nicht bloß aufgrund der Bündnistreue, sondern zunächst schon aufgrund der grundsätzlich gleichen Werte - der Verrat derselben fällt gerade deshalb wahrnehmungstechnisch weniger ins Gewicht. Und ebenso auf der Mikroebene ist diese Wahrnehmungslogik zu beobachten, in der Menschen, sei es in Europa oder in Asien, nicht davon gefeit sind, bei Untaten von beispielsweise Ausländern mit größerer Empörung zu reagieren als bei denselben Untaten ihrer eigenen Landsleute.

Fazit

Es wird deutlich, dass Analogien und Gegenüberstellungen auf Basis von unterschiedlichen Prämissen nicht durchdacht und irreführend sind. Ungeachtet all dessen stellt sich sowieso die Frage, inwiefern Demonstrationen von Muslimen Organisationen wie den IS überhaupt beeindrucken oder gar beeinflussen könnten. Anders als Politiker lassen Terroristen die Zustimmung des Volkes in ihren Vorhaben nicht miteinkalkulieren. Den Terroristenführern ist es gleich, ob man für sie oder gegen sie demonstriert - den politischen Entscheidungsträgern in Tel Aviv, Jerusalem, Ramallah, Riad, Berlin, Paris, London und Washington allerdings nicht.

Shayan ArkianShayan Arkian ist unter anderem Medien- und Politikberater und studierte Politik, Philosophie, Pädagogik und Theologie in Hamburg und Qom.

 

 

Markus FiedlerDr. phil. Markus Fiedler ist Autor von mehreren Büchern und zahlreichen Artikeln mit dem Schwerpunkt Islam und Muslime in der europäischen Wahrnehmung.

 

 

 


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Mena Watch21-12-17

Die „Khaybar, khaybar ya yhaud“-Rufe, das Verbrennen von Israel-Flaggen, die versuchte Brandstiftung von jüdischen Synagogen und Bethäusern sind also der Versuch, die EU von einer Anerkennung Jerusalems abzuhalten, die sie ohnehin nie vorhatte und aufs schärfste verurteilt hat? Eine Frage und ein Vorschlag noch: Warum nennen Sie sich „MultiPerspektivisch“, wenn sie genau die einseitig anti-israelische Position vertreten, die hierzulande seit Trumps Entscheidung gebetsmühlenartig verbreitet werden? Sie sollten sich vielleicht „EU-Verlautbarungsorgan“ nennen.

SA16-01-18

@Mena Watch

Das wurde so nicht geschrieben. Und es spricht nicht für jemanden, Argumente dem Anschein nach zu widerlegen, indem man gegen etwas argumentiert, was aber gar nicht behauptet wurde.

Des Weiteren ist es nicht richtig, von einem monolithischen Block in der EU auszugehen. Es gibt fürwahr Stimmen innerhalb der EU, die sich positiv über die Botschaftsverlegung Washingtons äußern und darüber öffentlich sich Gedanken machen, in Zukunft nachzuziehen. Diese Stimmen haben auch die Verurteilung/Kritik der EU an der Adresse Washingtons abgeschwächt. Eben aufgrund von massiven, aber friedlichen und politisch korrekten Proteste konnten sich aber vermutlich diejenigen Kräfte in der EU zumindest besser durchsetzen, die die Entscheidung Washingtons ablehnen. Ein völliges Ausbleiben von Protesten hätte jedenfalls nicht diese scharfe Verurteilung der EU zur Folge - mit weitreichenden Konsequenzen.

Mena Watch17-01-18

Wo haben Sie denn diese "friedlichen und politisch korrekten Proteste" gesehen? Was es in Folge der Trump-Entscheidung gab, war eine ganze Reihe an antisemitischen Massenaufmärschen, die teilweise von gewalttätigen Angriffen begleitet waren:

https://www.mena-watch.com/antisemitische-gewaltwelle-in-europa/

https://www.mena-watch.com/antisemitische-gewaltwelle-in-europa-teil-2/

SA02-02-18

Es gab solche vergleichsweise wenige Demonstrationen und solche vergleichsweise wenige Demonstranten innerhalb von friedlichen und politisch korrekten Demonstrationen. Deshalb sind aber jene wenige ja eben nicht gleich die vielen Massen an friedlichen und politisch korrekten Demonstrationen, Protesten und Entrüstungen, die es gegen die US-Entscheidung gegeben hat.

Zudem ist der Presse in dieser Frage teilweise fehlerhafte Darstellungen und Analysen unterlaufen, zum Beispiel:

- http://www.dw.com/de/kommentar-es-gab-keine-tod-den-juden-rufe/a-41955188

- https://www.tagesschau.de/inland/brennende-flaggen-101.html

Thomas01-03-18

Ein wenig habe ich den Eindruck, dass bestehende Probleme verharmlost werden. Fehlenden Protest nur mit Scham zu begründen, empfinde ich als falschen Weg. Die Vergleiche mit den Reaktionen auf Kindesmissbräuche in der katholischen Kirche (diese Missbräuche gab es übrigens auch in evangelischen und nicht-kirchlichen Einrichtungen) haben übrigens zu sehr klaren Präventionsregelungen geführt, die international ihresgleichen suchen und Erfolge zeigen. In jedem Fall war diese Thematik Thema der öffentlichen Diskussion, die auch etwas bewirkt und zu einer Aufarbeitung geführt hat. Diese öffentliche Diskussion zu islamistischem Terror und erst recht wirksame Anstrengungen und Regelungen zu deren Bekämpfung erlebe ich nicht. Eher nehme ich das Gegenteil wahr: stillschweigende Duldung. Und, da Sie mit elementarpsychologischen Argumenten arbeiten: Die öffentliche Wahrnehmung ist, dass das Schweigen schweigende Zustimmung ist.

SA02-03-18

@Thomas

- Nicht fehlender Protest, sondern fehlende bzw. weniger Demonstrationen. Proteste und Verurteilungen gibt es allemal - selbst teilweise von Salafisten.

- Sie sagen es, Sie (sic!) erleben es nicht. Und Sie können darauf vertrauen, dass viele Nicht-Christen ebenfalls nichts von den "sehr klaren Präventionsregelungen", "die international ihresgleichen suchen und Erfolge zeigen" erleben. Es ist daher nicht ungewöhnlich, dass Nicht-Muslime ebenso von den massiv in Angriff genommenen Präventions- und Deradikalisierungsprogramme von islamischen Einrichtungen und Muslimen nichts mitbekommen. Die Frage, die mir aber an dieser Stelle aufkommt, ist, wie lange und wie oft Missbrauchfälle geschehen mussten, bis diese "sehr klaren Präventionsregelungen" beschlossen und umgesetzt wurden. Sie sprechen ja auch selbst "lediglich" von Erfolgen und nicht davon, dass das Problem in Gänze gelöst worden wäre. Sie können deshalb davon ausgehen, dass die Versuche der Muslime auch nicht das Problem in ihren Reihen gänzlich ausmerzen werden, unabhängig davon wie massiv und systematisch diese sein sollten. Infolgedessen kann man allein vom Bestehen oder Ausmerzen des Problems nicht ableiten, ob von muslimischer Seite Unternehmungen dahingehend gibt oder nicht oder wie intensiv diese sind.

- Die öffentliche Wahrnehmung hängt unter anderem davon ob, von welchen Geistern sie beeinflusst und gelenkt wird. Schon komisch, dass bei Missbrauchsfällen in kirchlichen Einrichtungen nie der Ruf nach Distanzierung, Verurteilung und Demonstrationen aufkommt, aber bei Muslimen unverzüglich nach jedem Anschlag - selbst wenn diese es schon zigmal und oft im vorauseilenden Gehorsam getan haben. Nun, Ihre öffentliche Wahrnehmung ist insofern sicherlich kein Maßstab für objektive Deutungshoheiten.





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