09.12.2017 Dr. Markus Fiedler

Alles Taqiyya oder was?


Mo Ansar.

Von den sogenannten „Islamkritikern“ wird den Muslimen immer wieder der Vorwurf gemacht, dass sie Taqiyya (Verstellung) anwenden würden, um ihre wahren Absichten zu verbergen. So würden die Muslime in der Öffentlichkeit zwar vom Frieden reden bzw. den Islam als friedliche Religion darstellen, in Wirklichkeit allerdings die Machtübernahme in einem Land anvisieren, bis sich der Islam in der ganzen Welt durchgesetzt habe. Für  die Muslime sei es eine religiöse Pflicht, ihre wahren Absichten vor den Nichtmuslimen zu verbergen und sich in der Öffentlichkeit zu verstellen. Jeder Muslim bzw. jede Muslima erscheint demnach von vornherein als LügnerIn - ihm bzw. ihr ist demnach jedenfalls keinesfalls zu trauen. Dies dient auch als Vorwand, um einen Dialog mit dem Islam zu verweigern, ja sogar, um überhaupt jedes Gespräch mit Muslimen abzulehnen, da dies sinnlos sei, weil sich die Muslime auf jeden Fall verstellen würden. Auf diese Weise wird Misstrauen in der Bevölkerung geschürt und ein friedliches Miteinander als unmöglich dargestellt.

Auffällig dabei ist zunächst einmal, dass Antisemiten auch den Juden eine solche Verschwörung zur Erlangung der Weltherrschaft unterstellen. Eine Ähnlichkeit zu antisemitischen Verschwörungstheorien im 19. und 20. Jahrhundert ist offensichtlich, was auch ein Beleg dafür ist, dass die Islamfeindlichkeit der Antisemitismus unserer Tage ist.

Weiterhin ist zu konstatieren, dass die im Kalten Krieg den Kommunisten unterstellten Methoden heute fast nahtlos auf die Muslime übertragen werden - auch ein Hinweis darauf, wie das „Feindbild Muslim“ im Westen das „Feindbild Kommunist“ nach dem Kalten Krieg abgelöst hat. Jeder islamische Verein, ja jede Moschee, wird verdächtigt, wie ein bolschewistischer Zirkel zu arbeiten. Es wird der Eindruck erzeugt, dass die Muslime die Machtergreifung verdeckt und planmäßig vorbereiten würden. Indem sie den arabischen Begriff Taqiyya verwenden, erwecken „Islamkritiker“ bei vielen Unwissenden einen kompetenten Eindruck, und bei der durch viele Terroranschläge eh schon verunsicherten Bevölkerung fällt ihre Argumentation häufig auf fruchtbarem Boden. 

Selbst Vertreter des Zentralrats der Muslime wurden in Fernsehdiskussionen damit konfrontiert und hatten offenbar noch nie etwas davon gehört, was aber bereits deutlich macht, dass die Masse der Muslime von der vielbeschworenen Taqiyya überhaupt nichts weiß. Der Koran, das heilige Buch der Muslime und die wichtigsten Geistesquelle des Islam, verbietet im Vers 30 der Sure 22 das Lügen und er gestattet dabei keine Ausnahme. Vielmehr wird immer wieder die Aufrichtigkeit des Gläubigen gefordert, wie in den Vers 2 bis 3 der Sure 61: „O die ihr glaubt, warum sagt ihr, was ihr nicht tut? Welch schwerwiegende Abscheu erregt es bei Gott, dass ihr sagt, was ihr nicht tut.“

Ein Konzept der Taqiyya im Sinne einer Verheimlichung der wahren Absichten im Hinblick auf die Machtergreifung war auch zu Zeiten des Propheten des Islams, Mohammed ibn Abdullah, völlig unbekannt. Bei den Schiiten ist der Begriff ab dem 8. Jahrhundert n. Chr. nachweisbar, und er bedeutet hier die Erlaubnis, bei Zwang oder Gefahr für Leib, Leben und Besitz rituelle Pflichten zu vernachlässigen und den eigenen Glauben zu verheimlichen. Für den Begründer der zwölferschiitischen Rechtsschule, Imam Jafar as-Sādiq, war es ein Mittel, um der politischen Verfolgung durch die Kalifendynastie der Abbasiden zu entgehen. Auch bei den Sunniten kennt man die Verstellung bei Gefahr für Leib und Leben, aber nicht unter der Bezeichnung Taqiyya (siehe Vers 106 der Sure 16). Die Leugnung des Glaubens bei Lebensgefahr ist übrigens auch im Christentum nicht unbekannt, wo zum Beispiel Petrus dem Neuen Testament zufolge Jesus nach dessen Verhaftung verleugnete, um sein Leben zu retten: „Ehe der Hahn kräht, wirst du mich dreimal verleugnen.“ (Matthäus 26:34)

Die Darstellung der Verstellung als eine grundsätzliche religiöse Forderung an die Muslime oder ihnen erteilte Erlaubnis, gegenüber Nichtmuslimen zu lügen, um die Herrschaft zu erlangen, ist jedenfalls blanker Unsinn und hat als Verschwörungstheorie offenbar nun einen Zweck: Hass, Misstrauen und Feindschaft in der Bevölkerung gegen Muslime zu säen und das friedliche gesellschaftliche Miteinander zu sabotieren.


Markus FiedlerDr. phil. Markus Fiedler ist Autor von mehreren Büchern und zahlreichen Artikeln mit dem Schwerpunkt Islam in der europäischen Wahrnehmung.


 

 


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Germanist11-12-17

Auf Deutsch würde man wohl einfach 'Notlüge' sagen.





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