„Jeder Mensch ist heilig“


Völker der Erde.

Völker der Welt.

Ist der Islam eine menschenverachtende Religion? Welche Stellung hat die menschliche Freiheit im Islam? Führt der Islam zu einem Schwarz-Weiß-Denken? All diese und andere Fragen beschäftigen die Geister in der Republik, nachdem der Islam immer mehr in den medialen und politischen Fokus geraten ist und kein Monat vergeht, in dem nicht eine politische Talkshow sich wieder voll und ganz dem „Thema Islam“ widmet.

Wir lesen im Koran, dem heiligen Buch der Muslime und der wichtigsten Geistesquelle des Islams: „Und wahrlich, Wir haben die Kinder Adams geehrt…“ (Sure 17, Vers 70) Das bedeutet, dass bei Gott die Würde des Menschen unantastbar ist – ungeachtet dessen, welcher Religion, Rasse, Kultur usw. er angehört. Der Wert des menschlichen Seins ist vor Gott gleich; deshalb spricht Gott hier über alle Menschen – ohne eine spezielle Anrede.

Meine Wenigkeit hat sich mehr als 40 Jahre mit Religionen - speziell mit dem Islam - beschäftigt, und wenn ich heute das Wesen der Religion und das soziale Grundprinzip des Islam in einem Satz zum Ausdruck bringen sollte, dann würde ich sagen: Es ist nicht mehr und nicht weniger als die Einladung zur Menschlichkeit und die Achtung vor der hohen Stellung des Menschen in der Schöpfung. Jeder Mensch muss würdig behandelt werden, auch wenn er nicht so denkt wie ich. Jeder Mensch ist heilig, egal ob er meiner oder überhaupt keiner Religion angehört.

Auf der anderen Seite müssen die Anhänger der Religionen und der islamischen Schulen sich dessen bewusst werden, dass unverantwortliche Prediger - unter Anwendung der verschiedensten Mittel - daran arbeiten, mit der Formulierung einer „unabänderlichen Wahrheit“ das Toleranzgebot sämtlicher Religionen und islamischen Schulen zu gefährden. Die abrahamitischen Religionen können dieses Verhängnis aufhalten, indem sie sich auf ihre ethischen Grundwerte besinnen und damit zum Frieden beitragen. Freiheit ist im Islam ein untrennbarer Bestandteil der Religion - und zwar in einem Maße, dass niemand sie einschränken oder verweigern darf. Nach meinem Verständnis vom Koran kann ich den Freiheitsanspruch nicht einmal als ein menschliches Recht verstehen, vielmehr habe ich keine andere Definition für das menschliche und islamische Leben als die Freiheit selbst.

Wie kann man ohne Freiheit von einem menschlichen und islamischen Leben sprechen? Wenn man den Menschen seiner Freiheit beraubt, hat man ihm seine Identität genommen, weil die Grenze der menschlichen Identität im Vergleich zu anderen Lebewesen genau diese Freiheit ist. Im Koran lesen wir dazu: “Und hätte dein Herr es gewollt, so hätten alle, die insgesamt auf der Erde sind, geglaubt. Willst du also die Menschen dazu zwingen, Gläubige zu werden?” (Sure 10, Vers 99) Das bedeutet, dass der Koran niemals Zwang gut heißt, und es ist nicht die Absicht Gottes, dass die Menschen um jeden Preis gläubig werden, wie es der Koran eindeutig festhält: “Und sprich: ’Es ist die Wahrheit von eurem Herrn.’ Darum lass den gläubig sein, der will, und den ungläubig sein, der will.” (Sure 18, Vers 29) Deshalb hat die Einschränkung der Freiheit des Menschen im Islam keine religiöse Rechtfertigung. Wie kann also die Ansicht vertreten werden, dass der Koran oder der Prophet des Islams, Muhammad ibn Abdullah, die Freiheit des Menschen beeinträchtigen wollen?

Vielmehr sagte der Prophet: „Das Fundament meines Denkens ist auf Liebe und Zuneigung errichtet.“ Grundlage der Offenbarungsreligion Islam ist, dass die Menschen von ihrer gottgegebenen Vernunft Gebrauch machen und Toleranz ausüben. Zweifellos können Religionen in Toleranz, Harmonie und enger Verbundenheit zusammenleben - vorausgesetzt, dass sie ihre gemeinsamen grundlegenden Prinzipien erkennen und fern von jeglichem Fanatismus sind. Mit der richtigen Erkenntnis voneinander sind sie in der Lage, die Täuscher und Neider, welche den Fanatismus zu schüren versuchen, aufzuhalten.

Toleranz ist ein ontisches Erfordernis

In dem Maße, wie die Toleranz in der Gesellschaft eine konstruktive Rolle spielt, spielt Aggressivität darin eine destruktive Rolle. Toleranz ist nicht nur eine theoretische Verpflichtung, sondern sie ist ein ontisches Erfordernis. Die Schriften der Religionen beinhalten die reinsten und schönsten Muster für eine aktive Toleranz, die auf Anerkennung und Dialog basieren. Deshalb ist die Religion in ihrem Kern nicht aggressiv.

Tolerant bleiben bedeutet, andere Religionen und Kulturen respektvoll zu behandeln. Eine solche Haltung bedeutet die Ablehnung einer stufentheoretischen Wahrnehmung der Menschen in eine erste und zweite Klasse und die Anerkennung von Werten und Normen der Völker. Tolerant bleiben bedeutet, Menschen so anzunehmen, wie sie sind, und nicht, wie wir sie haben wollen. Tolerant bleiben bedeutet, jegliche Schwarz-Weiß-Sichtweise abzulegen und die Würde der Mitmenschen zu schützen.

Die Grundlage intoleranter Gedanken zeugt von einer absolut falschen Theorie, die da lautet:  “Sämtliche Tugenden, Wahrheiten und Reinheiten sind nur in uns vereint - und sämtliche Verdorbenheiten, Falschheiten und Unreinheiten finden wir bei unseren Gegnern”. Dieser Leitgedanke ist nichts anderes als Brennholz für das Feuer der Feindschaft und Intoleranz.

Toleranz hingegen bedeutet, den „Weg der Mitte“ zu beschreiten. Ali ibn Abu Talib, der Vetter und Schwiegersohn des Propheten und erste Imam der Schiiten, sagte: “…die Lebensführung des Propheten war gemäßigt und sein Brauch war die Vernunft…“, d. h. sie war ohne Über- und Untertreibung. Der Prophet sagte zudem: “Das Gute der Dinge ist ihre Mitte.“

Abschließend ist deshalb zu sagen, dass die Verantwortungsträger der Religionen dazu angehalten sind, vernunftgeleitete Menschen heranzuziehen, die den Stellenwert der Freiheit und des Friedens für den Menschen erkennen und schätzen. Wir brauchen Menschen, die aus sich heraus einsichtig sind und schließlich Menschen, die mit ihren Mitmenschen mitfühlen. Diese bedingen die Quintessenz der Religionen.


Razavi RadDr. phil. theol. Mohammad Razavi Rad ist spezialisiert auf Religionswissenschaft und Religionsphilosophie und ist Autor von mehreren Büchern, Publikationen und Aufsätzen und ist Direktor des Instituts für Human- und Islamwissenschaften in Hamburg.

 


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Fatih01-02-18

Walk the talk in Iran, dann beginne ich diese Gedanken in Übereinstimmung mit dem Handeln eines Assozieerten des Regimes zu sehen. Danke.

Ali Asghar01-02-18

Diese Themen sind in Iran nicht neu. Das theologische Klima ist dort offener als in Ägypten.





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