06.10.2017 Jasmin Mazraani

Der Partikularismus der Muslime im Universalismus des Islam oder warum die Wahrheit nicht den Muslimen gehört


Salafistischer Protest.

Demonstration von Salafisten.

Während Kain aufgrund seiner Niederlage und der Besserstellung seines kleinen Bruders aufgrund seiner Tugendhaftigkeit zum Todesschlag ausholte, versicherte Abel ihm, dass er seine eigene Hand nicht erheben würde, da er die Konsequenzen Gottes fürchtete. Kain, völlig berauscht von seinen Minderwertigkeitskomplexen, ließ sich davon nicht beeindrucken und tötete ihn.

Von diesem (nach der abrahamitischen religiösen Vorstellung) ersten Mord in der Menschheitsgeschichte haben die Menschen bis heute nicht sehr viel gelernt. Noch immer morden sie, weil es andere besser haben oder weil andere eine vermeintliche Gefahr für die eigene Position darstellen oder weil sie sich schlichtweg erhaben und dazu berechtigt fühlen. Die Geschichtsbücher sind überfüllt mit solchen Geschichten.

Die letztere Spezies von Mördern führt eine scheinbare universalistische Legitimation an. So sind beispielsweise säkulare Weltanschauungen und Religionen, die fast alle universalistisch, also für alle Menschen offen sind, dann oft jene, die scheinbar die Legitimation für das Morden liefern. Das Paradoxe dabei ist, dass von diesen Weltanschauungen und Religionen von ihren extremistischen Anhängern eine Legitimation entnommen wird, um ihre Auserwähltheit und Überlegenheit über andere Menschen zum Ausdruck zu bringen. Bei ihnen lebt die Wahrheit. Und anstatt dass sie andere dazu bewegen, an dieser Wahrheit teilzunehmen, werden sie für ihre Teilnahmslosigkeit an der Wahrheit getötet.

Am offensichtlichsten zeigt sich dies derzeit bei extremen islamistischen Gruppierungen. Sie töten Andersgläubige, zerstören ihre Denkmäler und Geschichte, und sie machen auch nicht vor Muslimen halt. Was fehlt nun solchen Gruppen, dass sie - anstatt andere zum Islam einzuladen bzw. sie zur „Wahrheit“ zu führen - sie lieber diffamieren, erniedrigen oder gar töten?

Der islamische Prophet Muhammad hat die meisten Menschen zu seiner Religion geführt, indem er eine innovative Verfassung für Menschen verschiedenen Glaubens schrieb (die Verfassung von Medina) und Friedensverträge schloss, wie den Vertrag von Hudaibiyya, der im heiligen Buch der Muslime, dem Koran, sogar als größter Sieg bezeichnet wird, weil in dieser Friedenszeit ein reger Austausch und Dialog stattfinden konnte, und sich schließlich der darauffolgende friedliche Übertritt Mekkas zum Islam vollzog). Es war also das gute Wort, womit der Prophet die Menschen überzeugte - es war weder das Schwert noch irgendwelche Diffamierungen, Beleidigungen oder Ähnliches. Im Koran, der auch die wichtigste Geistesquelle des Islams ist, heißt es: „Und wir haben dich nur als eine Barmherzigkeit für alle Welten entsandt.“ (Sure 21, Vers 107)

Dieser Vers zeigt den Universalismus des Islam und seine weitreichende Botschaft, nämlich eine Barmherzigkeit für jeden auf der Welt zu sein - und zwar durch den Dienst an dem einzigen Gott. Gott hat nach islamischer Vorstellung dem Menschen einen Verstand und die Freiheit mitgegeben, und das macht jeden Menschen zur Erkenntnis der Wahrheit fähig. Somit besitzt niemand die Wahrheit, weil jeder Mensch durch sein Menschsein Anteil an ihrer Erkenntnis hat. Und gerade weil jeder Mensch anders ist und Muslime auch als solche akzeptiert werden wollen, sind sie zur Toleranz angehalten, auch wenn andere an etwas anderes glauben, als sie selbst. Daher ist ein Partikularismus, also eine Art Erhebung seiner eigenen Interessen über andere, unislamisch.

Das Vorgehen der extremen Islamisten ist damit ein auf ein niederes menschliches Bedürfnis zurückzuführendes Motiv und hat mit der Erhaltung des Islams kaum bis überhaupt nichts zu tun - die Religion dient nur als ein Rahmen für ein grausames Unternehmen. Es geht bei solchen Machtspielen immer darum, sich über andere zu erheben, um so Identität zu schaffen. Das passiert dadurch, dass man das eigene hässliche Schlechte auf die anderen projiziert und alles Gute bei sich sieht. Auch Kain dachte nicht an die Unschuld seines Opfers, sondern nur daran, dass Abel - und nicht er - gewann.

Die Rattenfänger, die ihre Rekrutierten dazu bringen, an ihre Sache zu glauben, erreichen dies fast nur durch Emotionen. Nach dem französischen Sozialpsychologen Gustave Le Bon werden Massen nicht durch reine Vernunft überzeugt, sondern durch Emotionen und Eindrücke geführt, sodass sie eine unwirkliche Wirklichkeit eher annehmen würden als die wirkliche. Durch Emotionen werden fanatische Ideologien geschaffen, die Reales mit Irrealen vermischen, und die Menschen nun dazu bewegen, alles Erdenkliche zu tun. Sie brauchen also den Feind für die Erhaltung ihres Selbst und ihrer Ideologie - der Tod des Anderen ist das Leben ihres "Wirs". Auch wenn nun alle Andersgläubige nicht mehr existieren, so werden sie sich andere Feinde suchen, um ihre Erhabenheit und Identität sicher zu stellen. Dies ist wohl auch ein Grund, warum sich Extremisten - wie beispielsweise in Syrien - häufig gegenseitig bekämpfen. Der US-amerikanische Sozialphilosoph Sam Keen sagte zutreffend: "Aus unseren privaten Dämonen zaubern wir uns einen öffentlichen Feind".

Was aber Kain angeht, so wurde sein Wahn beendet, als er sich von einem Raben erklären lassen musste, wie er die Leiche seines Bruders begraben sollte. Die Fähigkeit Kains bestand auch darin, sein niederträchtiges Handeln zu erkennen, und er bereute hiernach.

Ob die Fanatiker unter den Muslimen und die islamistischen Terroristen irgendwann einmal ihr niederträchtiges Handeln erkennen, bleibt zu hoffen. Der Irrglaube, dass Wahrheit ein Gut ist, was man besitzt, und somit andere davon ausgrenzt, war schon immer Ursache für den Untergang der Völker. „Er lässt vom Himmel Wasser herabkommen, und dann fließen Täler entsprechend ihrem Maß, daraufhin trägt die Flut aufschwellenden Schaum. Und aus dem, worüber man das Feuer anzündet, im Trachten (da)nach(,) Schmuck oder Gerät (anzufertigen, entsteht) ein ähnlicher Schaum. So prägt Gott (im Gleichnis) das Wahre und das Falsche. Was nun den Schaum angeht, so vergeht er nutzlos. Was aber den Menschen nützt, das bleibt in der Erde. So prägt Allah die Gleichnisse.“ (Sure 13, Vers 17)


Jasmin MazraaniJasmin Mazraani ist Islam- und Sozialwissenschaftlerin und forscht über das politische und kulturelle Leben von Minoritäten.

 

 


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Ralf21-03-18

Jede Religion und Weltanschauung hat einen Wahrheitsanspruch, selbst die, die besagen, dass dies zu verwerfen sei, behaupten es mit Absolutheit.





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