06.10.2017 Jasmin Mazraani

Das Eintreten für Werte, denen man im gleichen Satz widerspricht


Ein Protest der PEGIDA.

Eine Demonstration der PEGIDA.

Was mich am Westen am meisten beeindruckt, ist, was er nach der Verabschiedung der Kirche und ihrer Macht - damit aber auch einhergehend der ganzen Religion - an Gedanken, an Gesetzen, an Idealen, an Fortschritt erreicht hat - ohne oder mit wenig Bezug zur Religion.

Zweifellos ist aber Religion noch ein Baustein der heutigen westlichen Kultur, jedoch ist ihr Geist weitgehend aus dem Gehäuse entwichen, wie es Max Weber einst konstatierte. Die Menschen hier haben umfassende Systeme des Rechts, der Normen, der Verwaltung und der Wirtschaft geschaffen - sowie erhabene Wissenschaftsmethoden. Man könnte meinen, sie haben den Gipfel der Zivilisation erklommen.

Menschen aus dem Westen wissen aber auch, welche Stellung sie durch das Streben ihrer Vorväter in der Welt haben. Sie ist hoch, sehr hoch, und das muss gewahrt werden vor jeglichen Einflüssen, die das in irgendeiner Weise gefährden könnten. Nicht anders kann ich mir erklären, warum in diesem hochzivilisierten Europa Menschen auf die Straße gegen andere Menschen (vor-)gehen, die wohl den schlechtesten Stand in dieser Gesellschaft haben. Gerade ihr Schicksal, das sie in diese schlechte Situation gebracht hat, wird als Argument angeführt, warum sie bloß wegbleiben sollen.

Da aber die „patriotischen Europäer“ doch schon wissen und hochhalten, für was ihre Vorväter gekämpft haben, nämlich für Freiheit, Demokratie, Gleichberechtigung und Gleichheit der Menschen, müssen diese „stolze Werte“ nun irgendwie mit ihrer Aversion harmonisieren. Dies tun sie, indem sie „Konzessivisten“ sind - das heißt Menschen, die zur Beschreibung ihrer Überzeugung Konzessivsätze nutzen, also Sätze, die sich selbst widerrufen. Meist läuft das dann so ab: „Ich habe nichts gegen Ausländer/Flüchtlinge/Muslime/Migranten, aber….“ Oder: „Ich bin zwar für die Religionsfreiheit, aber…“ Oder: „Ich bin zwar Demokrat und tolerant, aber…“ Und wenn dann Moscheen und Asylbewerberheime angezündet werden, sind nach diesem Denkmuster die Flüchtlinge selbst die Bösen. Der konkret Bedrohte ist in diesem Weltbild nicht schützenswert, sondern die Bedrohung selbst.

Die „Konzessivisten“, die ja eigentlich nichts gegen andere haben, „aber“ dann doch etwas finden, worin sie ihre Ablehnung kundtun können, erhalten sich damit ein gutes Gewissen in Bezug auf ihre schönen hochgehaltenen Werte, und sie lehnen diese zugleich aber für andere Menschengruppen ab. Bei den vielen grausigen Geschichten der Unmenschlichkeit, die uns jeden Tag aus den Fluchtorten zu Ohren kommen, ist es jedes Mal wieder verwunderlich, mit welchen Argumenten sie ihr(e) „Aber(eien)“ schmücken. Seien wir ehrlich: Eine Gesellschaft, die sich durch die bloße Anwesenheit einer kleinen Gruppe von Habenichtse in ihrer Existenz bedroht sieht, hat ein schwaches und paranoides Selbstbild. Hochnäsig stellen sie sich vor diese und wollen ihre Werte und ihren hart erarbeiteten Reichtum verteidigen, merken aber dabei nicht, dass sie damit primär ihre eigene Arroganz entblößen.

Bemerkenswert ist es zudem, dass sie ihre Werte und ihr Gut immer vor jenen beschützen wollen, deren Vorfahren von ihren Vorvätern in irgendeiner Weise kolonisiert wurden. Alle Menschen scheinen aus den ehemaligen Kolonien nach Europa zu kommen und zu flüchten, und sie wollen an den gleichen Lorbeeren teilhaben, die die Kolonialmeister aus ihrer „glorreichen Zeit“ gesammelt haben. Denn wen stören schon die Thailänder und Japaner, die kaum ein Wort Deutsch können, und die mit ihrer abstrakten Sprache und andersartigem Aussehen die Universitäten und Straßen bevölkern oder wenn sie (wie in Düsseldorf) ganze Stadtteile mit eigenen Restaurants, eigenen Supermärkten, eigene Friseurläden und eigenen Schulen besetzen? Wo sind hier die „Aber-Sager“ mit ihren Argumenten der Parallelgesellschaft, der Entfremdung der deutschen Kultur und dem Verlust der deutschen Sprache?

Aber darum geht es überhaupt nicht, es geht hier um einen viel gravierenderen Verlust: Menschen flüchten, weil sie Grausames erlebt haben. Sie geben ihre Heimat auf, ihr ganzes Hab und Gut. Dafür kommen viel auf dem illegalen Weg mit Schleppern nach Europa. Und wenn sie es endlich - trotz Lebensgefahr - schaffen, hier anzukommen, treffen sie auf die sogenannten "patriotischen Europäer", die sie ablehnen und gleich zurückschicken wollen. Was ist das für ein Zeichen? "Wer die Opfer nicht schreien hören, nicht zucken sehen kann, dem es aber, sobald er außer Seh- und Hörweite ist, gleichgültig ist, daß es schreit und zuckt - der hat wohl Nerven, aber - Herz hat er nicht.“ (Bertha von Suttner | 1843 - 1914)


Jasmin MazraaniJasmin Mazraani ist Islam- und Sozialwissenschaftlerin und forscht über das politische und kulturelle Leben von Minoritäten.

 

 


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G.12-10-17

Man kann seine Werte nicht dadurch verteidigen, dass man sie abschafft. Das wollen diese Leute auch nicht. Man muss ja sagen, dass gerade die, die sich groß diese Werte auf die Fahne schreiben die sind, gegen deren Widerstand diese Werte erst erkämpft werden mussten. Es geht viel mehr um einen ideologischen, nationalistischen und teilweise auch religiös-fundamentalistischen Kampf. Hetze auf der einen, aber auch totschweigen oder zumindest nichts tun gegen reale Probleme auf der anderen führen zu einer toxischen Mischung.

Otmar30-11-17

Würden sie in Iran Millionen Illegaler freundlichempfangen? Ohne Papaiere,überwiegend junge Männer (Deserteure?) und ihnen die gleichen Techte gewähren wie eigenen Staatsbürgern? Vergewaltigungen, Ehrenmorde Kinderehen Verwandtennachzug? Ich halte Iraner für zu Intelligent: Sie würden es nicht zulassen!

@Otmar01-12-17

Iran gehörte seit schon mehreren Jahrzehnten zu den Staaten, die mehr als Millionen Flüchtlinge aufgenommen hat, unter anderem aus Afghanistan und dem Irak.





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